Ehrliches Malertum
73.
Ehrliches Malertum. — Raffael, dem viel an der Kirche (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig, gleich den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen ekstatischen Frömmigkeit mancher seiner Besteller nicht einen Schritt weit nachgegangen: er hat seine Ehrlichkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich für eine Prozessions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne „Glauben“ auch haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Übermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt: „Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind — das ist ein angenehmer einladender Anblick?“ Dies Gesicht und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der Künstler, der dies alles erfand, geniesst sich auf diese Weise selber und gibt seine eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu. — In betreff des „heilandhaften“ Ausdrucks im Kopfe eines Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der keinen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte, seine gläubigen Betrachter auf eine artige Weise überlistet; er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren, hilfereichen Mannes, der einen Notstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; dass dieser fehlt und dass zwei verschiedene Lebensalter hier aus einem Gesichte sprechen, dies ist die angenehme Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet haben: so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten durfte.