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Der Apostat des freien Geistes

56.

Der Apostat des freien Geistes. — Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem gründlichen Bedauern, dass diese trefflichen Menschen nicht mit uns zusammenempfinden? Aber woher stammt jener tiefe plötzliche Widerwille ohne Gründe gegen Den, der einmal alle Freiheit des Geistes hatte und am Ende „gläubig“ wurde? Denken wir daran, so ist es uns, als hätten wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen müssten! Würden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rücken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns verdächtig würde? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurteilung, sondern aus einem plötzlichen Ekel und Grausen! Woher diese Schärfe der Empfindung! Vielleicht wird uns Dieser oder Jener zu verstehen geben, dass wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien? Dass wir bei Zeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergesslich mache, über unsere eigene Verachtung nicht hinwegkönnten? — Aufrichtig: diese Vermutung greift fehl, und wer sie macht, weiß Nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt: wie wenig erscheint ihm das Verändern seiner Meinungen an sich als verächtlich! Wie verehrt er umgekehrt in der Fähigkeit, seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis in’s Alter hineinreicht! Und selbst zu den verbotenen Früchten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und nicht sein Kleinmut): geschweige dass er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hätte! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der Unschuld aller Meinungen so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen: wie könnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum Richter und Henker werden! Vielmehr berührt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berührt: der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Überwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick über die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren Unredlichkeit überwältigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muss: von der Vorstellung einer allgemeinen und bis in’s Knochengerüste des Charakters greifenden Entartung. —