Die strafende Gerechtigkeit
78.
Die strafende Gerechtigkeit. — Unglück und Schuld, — diese beiden Dinge sind durch das Christentum auf Eine Wage gesetzt worden: sodass, wenn das Unglück groß ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich die Größe der Schuld selber darnach zurückbemessen wird. Dies aber ist nicht antik, und deshalb gehört die griechische Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die Rede ist, zu den großen Befreierinnen des Gemüts, in einem Maße, wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine „adäquate Relation“ anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, über welchen diese stolpern und deswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: „Ja, er hätte etwas bedachtsamer und weniger übermütig seinen Weg machen sollen!“ Aber erst dem Christentum war es vorbehalten, zu sagen: „Hier ist ein schweres Unglück, und hinter ihm muss eine schwere, gleichschwere Schuld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglücklicher nicht so, so bist du verstockt, — du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben!“ — Sodann gab es im Altertum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges Unglück; erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, sodass er bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit! — Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Unglück des Andern: dieser Affekt war unter christlichen Völkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für diesen männlicheren Bruder des Mitleidens.