
36. Bewegung und Ruhe als vom Sein verschieden. Feststellung der Verlegenheit über das Seiende
Fremder: Wie nun? Kommt es dir nicht vor, als ob wir das Seiende jetzt recht ordentlich mit unserer Erklärung umfaßt hätten?
Theaitetos: Allerdings.
Fremder: O weh, Theaitetos! Wie sehe ich, dass wir nun nichts mehr davon verstehen werden als nur, dass es keine Auskunft gibt bei dieser Untersuchung!
Theaitetos: Wieso, und was hast du nur schon wieder? [249e]
Fremder: Du Glücklicher, siehst du nicht ein, dass wir nun eben in der größten Unwissenheit darüber sind und uns nur einbilden, etwas gesagt zu haben?
Theaitetos: Ich bilde mir es noch ein. Und wie es uns unbewußt wieder so um uns stehen sollte, begreife ich gar nicht.
Fremder: Sieh nur genauer zu, ob, nachdem wir dies alles zugestanden, wir mit Recht eben das könnten gefragt werden, [250a] was wir vorher die fragten, welche sagten, das All sei Warmes und Kaltes.
Theaitetos: Erinnere mich doch, was?
Fremder: Gern, und ich will dies so zu tun suchen, dass ich dich frage wie damals jene, damit wir zugleich etwas weiterkommen.
Theaitetos: Gut.
Fremder: Wohl denn: hältst du Bewegung und Ruhe nicht für einander ganz entgegengesetzt?
Theaitetos: Wie könnte ich anders?
Fremder: Aber du sagst doch, dass beide und jede gleich sehr sind?
Theaitetos: Das sage ich freilich. [b]
Fremder: Meinst du nun, dass beide und jede bewegt werden, wenn du einräumst, dass sie sind?
Theaitetos: Keineswegs.
Fremder: Sondern dass sie ruhen, willst du andeuten, wenn du sagst, dass sie beide sind?
Theaitetos: Wie doch das?
Fremder: Also setzest du doch das Seiende in deiner Seele als ein Drittes außer diesen, indem du, Ruhe und Bewegung als von jenem umschlossen zusammenfassend und auf ihre Gemeinschaft in dem Sein Rücksicht nehmend, beiden das Sein beilegst?
Theaitetos: [c] Wir mögen wohl in der Tat das Seiende als ein Drittes andeuten, indem wir sagen, dass Bewegung und Ruhe sind.
Fremder: Nicht also Bewegung und Ruhe zusammengenommen ist das Seiende, sondern ein von diesen Verschiedenes.
Theaitetos: So scheint es.
Fremder: Also vermöge seiner eigenen Natur wird das Seiende weder ruhen noch sich bewegen.
Theaitetos: Schwerlich.
Fremder: Wohin soll also seine Gedanken noch wenden, wer etwas Deutliches darüber bei sich festsetzen will?
Theaitetos: Wohin wohl auch?
Fremder: Nirgendshin wohl so leicht, denke ich. Denn wenn sich etwas nicht bewegt, wie sollte es nicht ruhen? [d] Oder was auf keine Weise ruht, wie sollte sich das nicht bewegen? Das Seiende hat sich uns aber jetzt außerhalb beider gezeigt: ist das nun wohl möglich?
Theaitetos: Gewiß das Allerunmöglichste.
Fremder: An folgendes aber müssen wir uns hierbei wohl erinnern...
Theaitetos: Woran doch?
Fremder: Daß, als wir über das Nichtseiende gefragt wurden, wo man dieses Wort wohl anbringen müßte, wir auch in gänzlicher Verlegenheit befangen waren. Erinnerst du dich dessen?
Theaitetos: Wie sollte ich nicht?
Fremder: [e] Sind wir nun wohl in geringerer Verlegenheit über das Seiende?
Theaitetos: Mir, o Fremdling, scheinen wir womöglich in noch größerer.
Fremder: Dies liege also hier so unentschieden. Da nun aber das Seiende und das Nichtseiende zu ganz gleichen Teilen gehen in dieser Verlegenheit, so ist doch nun Hoffnung, dass so, wie nur das eine von ihnen sich uns, sei es nun dunkler oder bestimmter, darstellt, auch das andere ebenso sich darstellen werde; [251a] und wenn wir keines von beiden sehen sollten, wollen wir wenigstens die Erklärung beider zugleich auf die anständigste Weise, wie wir nur können, weiterbringen.
Theaitetos: Schön.
Fremder: Erklären wir denn, auf welche Weise wir doch jedesmal eine und dieselbe Sache mit vielen Namen benennen!
Theaitetos: Wie was doch? Gib mir ein Beispiel.