23. Die zwei Arten der Nachahmungskunst:
Ebenbildnerei und Trugbildnerei
Fremder: Wohlan also! Denn jetzt ist es unsere Sache, von dem Wilde nicht mehr abzulassen. [235b] Auch haben wir ihm fast das, was unter dem Jagdzeug für Reden ein wahres Fangnetz ist, glücklich umgeworfen, so dass er dem wenigstens nicht mehr entkommen wird.
Theaitetos: Welchem doch?
Fremder: Daß er vom Geschlecht der Taschenspieler einer ist.
Theaitetos: Auch mir scheint dies gar sehr von ihm.
Fremder: Ich schlage daher vor, aufs schnellste die nachbildnerische Kunst zu teilen, und wenn uns gleich, wie wir hineingestiegen, der Sophist standhält, ihn dann zu fangen nach den Vorschriften des königlichen Gesetzes, [c] und diesem dann den Fang überreichend vorzulegen, wenn er sich aber wieder in Teile der nachahmenden Kunst versteckt, ihm nachsetzend immer wieder den Teil, der ihn aufgenommen hat, abzuteilen, bis er gefangen ist. Auf alle Weise soll weder er noch irgend ein anderes Geschlecht sich jemals rühmen, dem Verfahren derer entkommen zu sein, welche so verstehen, das Einzelne und das Allgemeine zu behandeln.
Theaitetos: Wohlgesprochen! So müssen wir dies nun machen.
Fremder: Nach der bisherigen Weise der Einteilung glaube ich nun auch wieder zwei Arten der Nachahmungskunst zu sehen; [d] in welcher von beiden sich uns aber die gesuchte Gestalt befinde, das halte ich mich noch nicht imstande zu bestimmen.
Theaitetos: So sage nur zuvor und teile uns ab, welche zwei Teile du meinst!
Fremder: Die eine, welche ich in ihr sehe, ist die ebenbildnerische Kunst (Kunst der Ebenbilder). Diese besteht eigentlich darin, wenn jemand nach des Urbildes Verhältnissen in Länge, Breite und Tiefe, dann auch jeglichem seine angemessene Farbe gebend, die Entstehung einer Nachahmung bewirkt.
Theaitetos: Wie aber? Suchen nicht alle etwas Nachahmenden eben dieses zu tun?
Fremder: Wenigstens diejenigen nicht, welche von jenen großen Werken eines bilden oder malen. Denn wenn diese die wahren Verhältnisse des Schönen wiedergeben wollten, so weißt du wohl, würde das Obere kleiner als recht und das Untere größer erscheinen, [236a] weil das eine aus der Ferne, das andere aus der Nähe von uns gesehn würde.
Theaitetos: Allerdings.
Fremder: Lassen also nicht die Künstler das Wahre gut sein und suchen nicht die wirklich bestehenden Verhältnisse, sondern die, welche als schön erscheinen werden, in ihren Nachbildern hervorzubringen?
Theaitetos: Freilich wohl.
Fremder: Ist es also nicht billig, das eine, da es doch ähnlich ist, ein Ebenbild zu nennen?
Theaitetos: Ja.
Fremder: [b] Und der hiermit beschäftigte Teil der nachahmenden Kunst ist, wie wir auch vorher sagten, die ebenbildnerische zu nennen?
Theaitetos: So ist er zu nennen.
Fremder: Wie aber weiter? Was nur dem Schönen zu gleichen scheint, weil es gerade vom gehörigen Orte aus betrachtet wird, was aber, wenn es jemand genau betrachten könnte, dem gar nicht gleichen würde, dem es zu gleichen behauptet, - wie wollen wir das nennen? Nicht eben, weil es zu gleichen scheint und doch nicht gleicht, ein Trugbild?
Theaitetos: Unbedenklich.
Fremder: Und sehr bedeutend ist dieser Teil sowohl in der Malerei als in der gesamten bildenden Kunst. [c]
Theaitetos: Wie sollte er nicht?
Fremder: Und die ein Trugbild, nicht ein Ebenbild hervorbringende Kunst, werden wir die nicht am richtigsten die trugbildnerische nennen?
Theaitetos: Bei weitem am richtigsten.
Fremder: Diese beiden Arten nun, meinte ich, gäbe es von der bildermachenden Kunst: die ebenbildnerische und die trugbildnerische.
Theaitetos: Richtig.
Fremder: Was ich aber damals noch unentschieden ließ, in welche von beiden der Sophist zu setzen sei, das kann ich auch jetzt noch nicht bestimmt sehen. [d] Aber der Mann ist eben wahrlich rätselhaft und schwer zu erkennen; denn auch jetzt ist er gar schön und schlau in einen höchst schwierig zu erforschenden Begriff hineingeschlüpft.
Theaitetos: Das scheint er.
Fremder: Bejahest du das aus eigener Einsicht, oder hat dich nur gleichsam die Welle der Rede, wie du es schon gewohnt bist, mit fortgerissen, so schnell beizustimmen?
Theaitetos: Wieso, und weshalb fragst du das?