39. Die dialektische Wissenschaft als Wissen von der Verbindung und Trennung der Begriffe
Fremder: Und wie, Theaitetos, sollen wir diese nennen? Oder sind wir, beim Zeus, ohne es zu bemerken, in die Wissenschaft freier Menschen hineingeraten und mögen wohl gar beim Suchen nach dem Sophisten zuerst den Philosophen gefunden haben?
Theaitetos: Wie meinst du das?
Fremder: [253d] Das Trennen nach Gattungen, dass man weder denselben Begriff für einen andern, noch einen andern für denselben halte, wollen wir nicht sagen, dies gehöre zu der dialektischen Wissenschaft?
Theaitetos: Ja, das wollen wir sagen.
Fremder: Wer also dieses gehörig zu tun versteht, der wird eine Idee durch viele, die einzeln voneinander gesondert sind, nach allen Seiten sich hindurch erstreckend genau bemerken, und viele von einander verschiedene von einer äußerlich umfaßte, und wiederum eine als durch viele, die insgesamt miteinander verbunden sind, im Eins verknüfte, und endlich viele gänzlich von einander abgesonderte. [e] Dies heißt dann, der Art nach zu unterscheiden wissen, inwiefern jedes in Gemeinschaft treten kann und inwiefern nicht.
Theaitetos: Auf alle Weise gewiß.
Fremder: Aber dies dialektische Geschäft wirst du, hoffe ich, keinem andern anweisen als dem rein und recht Philosophierenden?
Theaitetos: Wie sollte man es wohl einem andern anweisen?
Fremder: In dieser Gegend herum werden wir also jetzt sowohl als hernach, wenn wir ihn suchen, den Philosophen finden, als schwer freilich auch ihn genau zu erkennen, [254a] nur von ganz anderer Art ist die Schwierigkeit des Sophisten und die seinige.
Theaitetos: Wieso?
Fremder: Der eine in die Dunkelheit des Nichtseienden entfliehend, mit der er aus unkünstlerischer Übung Bescheid weiß, ist wegen der Dunkelheit des Ortes schwer zu erkennen. Nicht wahr?
Theaitetos: So scheint es.
Fremder: Der Philosoph hingegen, in vernunftmäßigem Verfahren mit der Idee des Seienden stets beschäftigt, ist wiederum wegen der Helligkeit der Gegend keineswegs leicht zu erblicken. [b] Denn die Geistesaugen der meisten sind nicht imstande, in das Göttliche ausdauernd hineinzuschauen.
Theaitetos: Auch dieses ist nicht minder als jenes einleuchtend, dass es sich so verhalte.
Fremder: Diesen nun werden wir hernach wohl noch genauer betrachten, wenn wir noch Lust haben; von dem Sophisten aber dürfen wir offenbar nicht ablassen, bis wir ihn hinlänglich beschaut haben.
Theaitetos: Wohl gesprochen.