35. Notwendigkeit für die Ideenfreunde, auch ein Leiden des Seins zuzugeben und Bewegung, Vernunft und Leben dem wahrhaft Seienden zuzuschreiben


Fremder: Und nun laß uns zu den andern gehen, den Freunden der Ideen: Du aber dolmetsche uns auch das Ihrige!

Theaitetos: Das soll geschehen.

Fremder: »Also das Werden und Sein nehmt ihr getrennt voneinander an. Nicht wahr?«

Theaitetos: Ja.

Fremder: »Und mit dem Leibe hätten wir durch die Wahrnehmung Gemeinschaft an dem Werden, durch den Gedanken aber mit der Seele an dem wahrhaften Sein, welches, wie ihr sagt, sich immer auf gleiche Weise verhält; das Werden aber verhält sich immer anders«.

Theaitetos: [248b] Das sagen wir allerdings.

Fremder: »Aber dieses ›Gemeinschaft-Haben‹, ihr Allerbesten, was sollen wir doch sagen, dass ihr damit an beiden eigentlich meint? Nicht das eben von uns Gesagte?«

Theaitetos: Welches denn?

Fremder: »Ein Leiden oder eine Einwirkung, aus irgend einer Kraft in dem, was mit einander zusammentrifft, entstehend.« Vielleicht aber, o Theaitetos, kannst du ihre Antwort hierauf nicht recht vernehmen, ich aber vielleicht aus alter Bekanntschaft.

Theaitetos: Wie erklären sie sich also?

Fremder: [c] Sie räumen uns das nicht ein, was wir eben vorher zu den Erdgeborenen über das Sein gesagt haben.

Theaitetos: Welches?

Fremder: »Wir setzen das als eine hinreichende Erklärung des Seienden, wenn einem auch nur im geringsten ein Vermögen beiwohnte, zu leiden oder zu tun?«

Theaitetos: Ja.

Fremder: Hierauf nun erwidern sie dieses: dass dem Werden allerdings das Vermögen eigne, zu leiden und zu tun; dem Sein aber, behaupten sie, sei keines von diesen beiden Vermögen angemessen.

Theaitetos: Haben sie damit recht?

Fremder: Worauf wir jedoch entgegnen müssen, dass wir noch bestimmter von ihnen zu erfahren wünschen, [d] ob sie darüber mit uns einig sind, dass die Seele erkenne und das Sein erkannt werde.

Theaitetos: Das bejahen sie doch gewiß.

Fremder: »Und wie das Erkennen oder Erkanntwerden, nennt ihr das ein Tun oder ein Leiden oder beides? Oder das eine ein Tun und das andere ein Leiden; Oder meint ihr, keines habe mit keinem von beiden irgend etwas zu schaffen?« Gewiß doch keines mit keinem; denn sonst widersprächen sie dem Vorigen.

Theaitetos: Ich verstehe: Dieses nämlich, dass, wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig, dass das Erkannte leidet, [e] dass also nach dieser Erklärung das Sein, welches von der Erkenntnis erkannt wird, wiefern erkannt, insofern auch bewegt wird vermöge des Leidens, welches doch, wie wir sagen, dem Ruhenden nicht begegnen kann.

Theaitetos: Richtig.

Fremder: Aber wie, beim Zeus? Sollen wir uns leichtlich überreden lassen, dass in der Tat Bewegung und Leben und Seele und Vernunft dem wahrhaft Seienden gar nicht eigne? Daß es weder lebe noch denke, [249a] sondern der hehr und heilig, der Vernunft entbehrend, unbeweglich stehe?

Theaitetos: Eine arge Behauptung, o Fremdling, würden wir da einräumen!

Fremder: Oder sollen wir bejahen, dass es Vernunft habe, aber leugnen, dass es Leben habe?

Theaitetos: Wie denn nur?

Fremder: Oder sollen wir sagen, dies beides wohne ihm zwar ein, nur wollen wir behaupten, in einer Seele habe es dieses nicht?

Theaitetos: Aber auf welche andere Weise sollte es dies wohl haben können?

Fremder: Also wollen wir sagen, es habe Vernunft und Seele und Leben, nur dass es, obwohl belebt, ganz unbewegt dastehe?

Theaitetos: [b] Dies alles scheint mir ganz unvernünftig zu sein.

Fremder: Daß also Bewegtes und Bewegung als seiend müßte eingeräumt werden?

Theaitetos: Unbedenklich.

Fremder: Denn es folgt ja, o Theaitetos, daß, wenn alles unbewegt ist, niemand irgend von etwas könne Verstand haben.

Theaitetos: Offenbar ja.

Fremder: Allein wenn wir wiederum einräumten, dass alles bewegt und verändert werde, so würden wir durch diese Behauptung gleichfalls ebendasselbe aus dem Seienden ausschließen.

Theaitetos: Wieso?

Fremder: Das »auf gleiche Weise« und »ebenso« und »in derselben Beziehung«, [c] dünkt dich denn das ohne Ruhe stattfinden zu können?

Theaitetos: Keineswegs.

Fremder: Und siehst du etwa, dass ohne dieses von irgend etwas eine Erkenntnis sein oder entstehen kann?

Theaitetos: Ganz und gar nicht.

Fremder: Und gegen den ist doch auf alle Weise zu streiten, der Wissenschaft, Einsicht und Verstand beiseiteschafft und dann noch irgend worüber etwas behaupten will.

Theaitetos: Gar sehr.

Fremder: Und der Philosoph also, der gerade dies am höchsten schätzt, ist, wie es scheint, deshalb auf alle Weise genötigt, weder von denen, welche das All es sei nun als Eins oder als viele Ideen setzen, es als ruhend anzunehmen, [d] noch auch wiederum auf die, welche das Seiende durchaus bewegen, auch nur im mindesten zu hören, sondern, wie die Kinder zu begehren pflegen, muß er beides von dem Seienden und All, dass es unbewegt und dass es bewegt sei, sagen.

Theaitetos: Vollkommen wahr.


 © textlog.de 2004 • 22.12.2024 06:06:47 •
Seite zuletzt aktualisiert: 07.01.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright