37. Unausweichlichkeit, eine Verknüpfung und Verbindung des Seienden anzunehmen
Fremder: Wir sagen doch von einem Menschen gar vielerlei, indem wir ihn danach benennen, wenn wir ihm Farbe beilegen und Gestalt und Größe, auch Fehler und Tugenden, in welchen Fällen wie in hunderttausend anderen Fällen wir denn nicht nur sagen, dass er ein Mensch ist, sondern auch, [251b] dass er gut ist, und unzähliges andere, und ebenso verhält es sich mit allen andern Dingen, dass wir jedes als Eins setzen, und hernach doch wieder Vieles davon sagen, mit vielerlei Benennungen erklären durch vielerlei Worte.
Theaitetos: Wahr gesprochen?
Fremder: Wodurch wir nun Jünglingen und schwerköpfigen Alten, denke ich, ein Mahl bereitet haben. Denn das hat ja jeder leicht bei der Hand aufzugreifen, dass es unmöglich ist, dass Vieles Eins und Eines Vieles sei, und sie haben zumal ihre Freude daran, nicht zu leiden, dass man einen Menschen gut nenne, [c] sondern das Gute gut und den Menschen Mensch. Du triffst gewiß oft, denke ich, Theaitetos, solche, die sich auf dergleichen gelegt haben, alte Leute bisweilen, die aus Geistesarmut dergleichen bewundern oder auch selbst meinen, wunder was für Weisheit daran erfunden zu haben.
Theaitetos: Allerdings.
Fremder: Damit wir uns also an alle wenden, die jemals was auch immer über das Sein vorgetragen haben, [d] so sei zu diesen sowohl als zu den übrigen, mit denen wir vorher uns schon unterredeten, noch folgendes frageweise gesprochen.
Theaitetos: Was also?
Fremder: »Ob wir weder das Sein der Ruhe und Bewegung verknüpfen, noch überall irgend eines mit dem andern, sondern als unvermischbar und unfähig, eines an dem andern teilzuhaben, Alles in unsern Reden setzen wollen? Oder ob wir Alles in Eins zusammenbringen als der Gemeinschaft unter sich fähig? Oder einiges zwar, anderes, aber nicht?« Welches hiervon, o Theaitetos, werden wir sagen, dass diese vorziehen? [e]
Theaitetos: Ich weiß für sie nichts hierauf zu antworten. Warum willst du also nicht einzeln jedes beantworten und zusehen, was aus jedem folgt?
Fremder: Du hast recht. Setzen wir also zuerst, wenn du willst, den Fall, sie sagten, nichts habe irgend ein Vermögen, mit irgend einem zu irgend etwas in Gemeinschaft zu treten. Dann werden also Bewegung und Ruhe nirgendwie am Sein Anteil haben?
Theaitetos: Freilich nicht. [252a]
Fremder: Und wie? Wird dann wohl eine von ihnen sein können, wenn sie mit dem Sein gar keine Gemeinschaft hat?
Theaitetos: Keine wird sein.
Fremder: Plötzlich also gerät durch diese Annahme alles in Aufruhr, wie es scheint, sowohl bei denen, die das All bewegen, als bei denen, die es als Eins hinstellen und die den Ideen nach das Seiende als immer auf gleiche Weise sich verhaltend annehmen. Denn sie alle verknüpfen doch das Sein, indem die einen sagen, es sei wirklich bewegt, die andern, es sei wirklich ruhig.
Theaitetos: Offenbar freilich.
Fremder: [b] Ebenso auch die, welche das All bald zusammensetzen und bald teilen, es sei nun, dass sie es in das Eine und das Unendliche aus dem Einen, oder dass sie es in endliche Bestandteile teilen und aus diesen zusammensetzen, und gleichviel, sie mögen annehmen, dies geschehe abwechselnd, oder auch, es geschehe immer, auf jede Weise haben sie doch alle unrecht, wenn es keine Vermischung gibt.
Theaitetos: Richtig.
Fremder: Und weiter müssen die selbst am allerlächerlichsten ihre eigne Rede strafen, welche nicht leiden wollen, dass man irgend etwas von einem andern ihm durch Gemeinschaft Zukommenden benenne.
Theaitetos: Wie das? [c]
Fremder: Sie sind doch überall genötigt, das »Sein« zu gebrauchen und das »Ohne« und das »Andere« und das »An sich« und tausenderlei anderes, dessen sie sich nicht enthalten können, dass sie es nicht in ihren Reden verknüpfen, und sie bedürfen daher nicht, dass jemand sonst sie widerlege; sondern, wie man zu sagen pflegt, von Hause her bringen sie sich ihren Gegner und Widerpart mit, der ihnen von innen her zuraunt wie der närrische Eurykles, und führen ihn überall mit sich herum.
Theaitetos: Das ist recht ähnlich und wahr! [d]
Fremder: Wie aber, wenn wir nun alles ließen ein Vermögen haben, sich unter einander zu verbinden?
Theaitetos: Das aber kann ich sogar widerlegen.
Fremder: Wieso?
Theaitetos: Weil die Bewegung selbst dann auf alle Weise ruhen würde und die Ruhe selbst wiederum sich bewegen, wenn diese beiden zusammenkämen.
Fremder: Das ist aber doch aus allen Gründen unmöglich, dass die Bewegung ruhe und die Ruhe sich bewege?
Theaitetos: Unbedenklich.