Die Herren Wahrnehmer
Von Briefmarken weiß ich nicht sehr viel. Es gibt so eine dreieckige blaue, wie? … die blaue Mauritius … ? nun, das ist nicht von Belang. Aber posito gesetzt den Fall: ich artikelte nun über Briefmarken. Und zwar des Sinnes: die teuerste Marke der Welt sei jene deutsche Drei-Pfennig-Marke, die da vor dem Kriege einmal in mehreren Bogen herausgerutscht ist; die Bogen wiesen sämtlich einen Druckfehler auf – da stand nämlich:
DFUTSCHES REICH
– eine der frühesten Prognosen für den Weltkrieg, die historisch nachweisbar sind. Schriebe ich nun, diese Marke sei die teuerste der Welt, was gewiß falsch ist, so wäre es richtig und verständlich, wenn ein Philatelisten-Verband, der das zufällig zur Kenntnis bekommt, sich einen seiner schön bedruckten Briefbogen hernimmt und mir mitteilt: »Sie haben sich geirrt. Diese Marke ist gar nicht so teuer. Laut Senfs Katalog … « und so fort. Das hat Sinn und Verstand.
Dagegen ist die »Wahrnehmung der Verbandsinteressen« durch die beteiligten Vereine nunmehr zu einem öffentlichen Unfug geworden, gegen den nur dadurch wirkungsvoll protestiert werden kann, dass der Verein jedesmal ohne Antwort, sein Eingriff immer ohne Wirkung bleiben und höchstens einmal dem betreffenden Syndikus oder Sekretär eins auf die Finger geklopft werden muß.
Es ist nicht mehr möglich, zu sagen: »Es gibt in Spanien kleine Gürkchen, die ich in Deutschland noch niemals gefunden habe – etwas sehr Erfrischendes und Wohlschmeckendes« ohne dass der »Reichsverband Deutscher Gurkenbesitzer« in einem feierlichen Schreiben Protest einlegt. Die deutschen Gurken seien viel schöner. Die spanischen seien ein Dreck. Außerdem gebe es in Deutschland überall die spanischen Gurken. Leider. Gott sei Dank … »und denn doch in Wahrnehmung unserer Verbandsinteressen bitten müssen, den schwergeprüften Gurkistenstand, der schon so schwer zu kämpfen hat, durch eine sofortige Richtigstellung … « (Wahrscheinlich wird jetzt ein Schreiben des betreffenden Gurkenverbandes kommen, er heiße anders, und solche Gurken, wie dem seine Gurken … ) Und da gibt es kaum ein Blatt, kaum einen Verlag, kaum ein Theater, die nicht gleich, wie Polgar das nennt, »mit eingezogenem Selbstbewußtsein« den Rückzug antreten. Wovor haben sie Furcht?
Vor dem Boykott.
Diese Vereinigungen, vornean die Beamten, danach die Volksschullehrer, haben es mit der Standeswürde, mit den Verbandsinteressen, mit Gott weiß was allem – und sie kämpfen nicht schlecht für ihre falsch verstandenen Ideale. Immer hoch mit dem Minderwertigkeitskomplex! Vom Warenabsatz zu schweigen. Am bösesten wird die Kampagne dann, wenn man der betreffenden Branche die Bedeutung abgesprochen hat – dann geraten sie ganz aus dem Häuschen. Denn in diesem übervölkerten Land der konstanten Arbeitslosigkeit ist das höchste Ideal: die »für die Volkswirtschaft anerkannte Bedeutung der Arbeit« – dahinter kraucht im Gebüsch die Angst vor der Arbeitslosigkeit. Gott segne den Innendienst.
Es muß eine Firma geben, die diesen Verbänden fix und fertig liefert, was sie brauchen. Auf ihren Kongressen, Fachtagungen, in ihren Protesten, in ihren lächerlichen Einmischungen in die Kämpfe des Geistes findet sich ein Vokabular, das standardisiert ist. Man weiß das Zeug alles auswendig: die Wahrnehmung und die Bedeutung und die Volkswirtschaft und das Volksganze und in Anbetracht der Steuerbelastung … und was der Mensch so nötig hat.
Ganz besonders schön wird das aber, wenn sich diese Sekretäre, die gern Syndici, die Syndici, die gern Direktoren, und die Direktoren, die gern Reichsverbandspräsidenten werden wollen – wenn sich die in Streitigkeiten einmischen, die sie nun aber ganz gewiß gar nichts angehen.
Der Nervenarzt Ludwig Paneth hat in der »Gesellschaft für freie psychoanalytische Forschung« zu Berlin im März dieses Jahres einen Vortrag über »Das Problem der Psychosynthese bei Jung« gehalten, ein Meisterstück leuchtender Klarheit, sauber in der Diktion, voller Überlegenheit und Demut, die Wahrheit zu suchen – die Leser des Vortrages, der in einem Sonderabdruck der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (Nummer 18; Verlag Georg Thieme, Leipzig) erschienen ist, werden sich dran delektieren. Eine höchst bemerkenswerte Schrift. Ich habe mit Jung meine großen Schwierigkeiten gehabt; vieles war meinem Verständnis ganz entrückt – er schreibt nicht so klar wie Freud, er hat es wohl viel, viel schwerer als dieser, der diesseitiger ist, rationaler … ein Entdecker hats immer schwer. Dieser Vortrag Paneths zeigt aber auch wenig geübten Alpinisten der Lehre, wie man über die Felsen herüberkommt. Für den Kenner der Materie darf angemerkt werden, dass hier die Genesis einer neuen Zeit liegt, deren Bedeutung man niemals an den Karikaturen ihrer Vertreter ermessen darf: Jung kann nichts für Keyserling und seine Leute – selbst bei jeder guten Ausstellung liegt ein Rummelplatz. Auch wird diese Lehre nicht den »Materialismus überwinden«, oder wie diese Schlagworte heißen – aber man kann nicht an ihr vorbei, will man nicht der gradezu furchteinflößenden Plattheit jener »Freidenker« verfallen, die wirklich glauben, die Katholiken beteten Götzen an und alle Religionen seien Ammenmärchen. Solange sich dieser Kampf im Politischen bewegt, hält es schwer, der Religion beizuspringen, weil die politischen Auswirkungen Roms alles andere als erfreulich sind; im Augenblick aber, wo das nach innen schlägt, gehört schon ein sehr großer und hoher Geist dazu, um sich über den Katholizismus zu schwingen, der als Vulgär-Katholizismus leider sacht ins Protestantische abrutscht. Nun, das ist ein weites Feld. Also: Paneth.
Er spricht davon, wie Jung der Auflösung des Ichs, die Freud betreibt, eine Synthese gegenübersetzt – und bei jeder Synthese müsse man nach dem Wohin fragen; nach dem Ziel: was denn da eigentlich zusammengesetzt werden solle. Ich will das, was Paneth sagt, interpretieren. In der Soziologie Simmels ist einmal davon die Rede, dass die meisten Menschen gar nicht »fertig« sind – die meisten sind schwache Skizzen dessen, was im Bereich ihrer eignen Möglichkeit liegt. (Um das wundervolle Wort eines schweren Schizophrenen heranzuziehen: »rasch hingemachte Männerchen«.) Dem Schulze ist nicht etwa vorzuwerfen, dass er kein Napoleon, sondern dass er nicht ganz und gar, bis an den Rand, Schulze ist. Mit ein bißchen andern Worten sagt Paneth das auch: Jung wolle durch seine Synthese die Menschen zu sich selber bringen; sie seien so oft mit der Welt zerfallen und allein, weil sie der Welt nichts Fertiges entgegenzustellen hätten – und hieran eben arbeite Jung. Paneth, dessen Klarheit nur noch von seiner Bescheidenheit übertroffen wird, sagt in den einleitenden Worten seines Vortrages: »Sehr vieles und sehr Wesentliches unseres Themas bewegt sich hart an der Grenze des Darstellbaren, zum Teil ist es wohl mit Worten, wenigstens in diskursiver Rede, überhaupt nicht darstellbar.« Und weiter: »Ist es denn aber möglich, außer solchen negativen Bestimmungen auch positiv das allgemeine Ziel der Erziehung – mit welcher die Heilbehandlung auf dieser Stufe zusammenfällt – zu bezeichnen? Sicherlich ist es schwer, nicht zuletzt deshalb, weil die Sprache, wenigstens die deutsche, für Gedanken von so allgemeiner Hoheit kein entsprechendes allgemeines Wortmaterial zur Verfügung stellt, man also immer in Gefahr ist, sich eng oder einseitig auszudrücken.« Für den, der in die Reden Buddhas auch nur hineingerochen hat, für den, der nur ein einziges Mal das Werk eines chinesischen Philosophen in der Hand gehalten hat, eine Selbstverständlichkeit: definieren Sie einmal exakt, was das ist: das »Tao«, oder das »Dvandva« – und Sie werden Ihre Freude haben.
Man wird mir zugeben, dass hier ein geistiger Vorgang zur Darstellung gebracht wird; ein geistiger Kampf, etwas, das sich auf einer sehr hohen Ebene abspielt.
Ich lese das kleine Heftchen zum zweiten, zum dritten Mal – da fällt ein loses Blatt heraus. »Eine Erklärung zu meinem Aufsatz: Das Problem der Psychosynthese bei Jung.« Eine Erklärung? Was ist geschehen?
Auf die dünnen Schälchen chinesischen Porzellans hat sich mit breitem Hintern ein Deutscher gesetzt. Wer? Der Deutsche Sprachverein.
Er nimmt wahr. Er protestiert. Was? »Gedanken von so allgemeiner Hoheit kann man nicht auf deutsch … ?« Das wäre ja … Nun aber! Auf ihn mit Gebrüll!
Paneth hat das in ritterlicher Weise gelöst; er hat sich wirklich herbeigelassen, diesen Vereinsmeiern, die seine Bemerkungen nicht verstanden haben, denn sonst hätten sie ja nicht protestiert, auseinanderzusetzen, wie ers gemeint habe: In keiner europäischen Sprache, die ihm bekannt sei, könne man das ausdrücken, worum es sich handele – er habe nur auf die asiatischen Sprachen angespielt, und er bitte »solche Leser, die, gleich dem Herrn Vorsitzer des Deutschen Sprachvereins, in jenen drei Worten eine Spitze gegen die deutsche Sprache erblicken sollten, diese Ersetzung vorzunehmen«. Und ein höfliches Lächeln. Deutscher Sprachverein schwer blamiert ab.
Es ist beschämend.
Es ist beschämend, weil die Vereinswichtigmacher unser öffentliches Leben auf einen geistigen Tiefstand herunterziehen, der ihm grade noch gefehlt hat. Daß jede Kritik an einem Stand durch diese Burschen ungeheuer erschwert wird, weiß jeder von ihnen geplagte Zeitungs-Redakteur: geplagt von ihnen und vom Verleger, der täglich zweimal die Hosen wechseln muß, wenn solche Briefe einlaufen. Ich halte jede Richtigstellung, jede Verbesserung, mag sie von einer Einzelperson oder von Verbänden kommen (also doch von Einzelpersonen: nämlich von kollektivtrunknen Sekretären), für ersprießlich, solange man etwas dabei lernen kann. Unter den Briefen, die ich so bekomme, sind Leserbriefe von erquickender Gegnerschaft – schreiben die Männer oder Frauen deutsch und nicht beamtisch: ich antworte immer. Wenn aber diese Kegelklubs aller Arten sich erdreisten, sich in Dinge einzumischen, die sie einen Schmarrn angehen, dann werfe man den Brief in den Papierkorb und blase ihnen was. Wobei davon abgesehen werden mag, dass der Deutsche Sprachverein so ziemlich der allerletzte ist, der sich anmaßen darf, die »deutsche Sprache zu vertreten« – denn so etwas Ledernes wie seine Publikationen, so etwas Trostloses von Lehrerdeutsch war noch nicht da. Puristen, die deshalb kein unsauberes Sprachhemd tragen, weil sie überhaupt keines tragen – arme Luder.
Vom Nationalverband Deutscher Offiziere bis zu Herrn Fechter von der Deutschen Allgemeinen: es ist immer dasselbe. Unter denen, die Geistesprodukte zu Ware machen, unter den so nötigen Vermittlern des Geistes sind viele rasch hingemachte Männlein. Und wo sind die Männer –?
Peter Panter
Die Weltbühne, 22.10.1929, Nr. 43, S. 623.