Neues Licht
Dies ist die Vorrede zum »Deutschen Lichtbild 1929/30«, das im Verlag Robert und Bruno Schultz, Berlin W. 9, Schellingstraße 12, erscheint. Diese schöne Jahresschau kommt, wie jedes Jahr, auch in diesem Oktober heraus; sie enthält die besten deutschen Fotografien.
»Maler können bekanntlich nicht kieken.«
Deutschland zerfällt in Fachleute und Laien – jene blicken auf diese voller Verachtung herunter, und da jeder einmal Fachmann, neunundneunzigmal hingegen Laie ist, so ergibt sich ein heftig bewegtes Gesellschaftsspiel, dessen Fruchtbarkeit geringer ist, als seine Veranstalter glauben. Es kommt bei diesem Spiel nicht viel heraus.
Daß in diesem fachwütigen Deutschland der Herausgeber eines Fachbuches den Mut hat, einen ††† Laien damit zu betrauen, das Vorwort zu schreiben, darf dankbar angemerkt werden. Um so mehr, als die meisten Fachleute leicht vergessen, dass sie ja alle für den Laien arbeiten, der sich zwar niemals das Recht anmaßen darf, einen Arzt über die Entstehung eines Infektionsherdes zu belehren, der aber ein Recht, ein einziges, besitzt: zu erklären, er sei gesund geworden oder nicht.
Der Fotograf arbeitet, damit der Laie sich seine Bilder ansehe, seine Freude an ihnen habe, sie immer wieder betrachte – erst in zweiter Linie ist die Fachkritik für ihn von Wichtigkeit, die ihn belehrt: er habe mit falscher Belichtung fotografiert, er habe einen falschen Bildausschnitt gewählt, er habe nicht das richtige Papier genommen … Ich habe den höchsten Respekt vor anständiger handwerklicher Arbeit, die wir in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auf allen Gebieten so sehr vernachlässigt haben – aber die handwerkliche Arbeit ist Voraussetzung, nicht Endzweck der Fotografie. Was ist das, die Fotografie?
Kunst –?
Sie war Jahrzehnte hindurch Mitteilung und Gebrauchsgegenstand: Mitteilungsmittel für die illustrierten Blätter, die auf diesem Wege dem Leser kundtaten, dass der Herzog von Pleitonien einen gestutzten Schnurrbart trüge; Gebrauchsgegenstand für den Haushalt, auf dessen Salontisch das dicke lederoder plüschgebundene Fotografie-Album mit den Goldbeschlägen lag … das ist Tante Anna als junges Mädchen, ja, war ganz hübsch, damals … sieh mal, Onkel Emil als Einjähriger! zum Kullern … und dies ist Großmama, ihre letzte Aufnahme … den da werd ich mal rausnehmen, der Lümmel hat sich Lisa gegenüber derart benommen! … das ist die Fotografie gewesen. Dann brach etwas andres herein.
Die Fotografie bekam den malerischen Fimmel. Sie hat ihn noch nicht ganz überwunden.
Gepiekt von dem Ehrgeiz, auch als »Künstler« zu gelten, worunter viel Samtjacke zu verstehen ist, äfften die Fotografen die Malerei: den Impressionismus, später den Expressionismus, gestilt, geballt und gezackt – und die ganze Zeit hindurch die klassizistische Malerei mit schweren Brokatvorhängen und edler Haltung. Das war nicht schön. Ganz allmählich setzt sich etwas andres durch; die Fotografie kehrte scheinbar zu ihren ersten Anfängen zurück, zu jener Zeit, wo unvollkommene Apparate und tastende Entwicklungsversuche eine Wiedergabe von Gewändern, von Fleischtönen und von Licht ergaben, wie man sie zu erreichen erst jetzt wieder in der Lage ist – der Kreis schloß sich, und hier begann etwas völlig Neues.
Die Karikatur dieses Neuen heißt »neue Sachlichkeit« – ein Ding, das insofern keinen ganz richtigen Namen trägt, als es weder neu noch sachlich ist. In ihm ist bei seinen ehrlichen Vertretern jenes »Indianerstaunen über die Zivilisation«, wie Karl Kraus das genannt hat; in ihren unechten Vertretern viel Koketterie, Modelaune, Spielerei – und in allen die Ziellosigkeit dieser Epoche, die nicht mehr ganz mechanistisch ist und noch nicht wieder fromm. Sie parodiert beides.
Das ist in diesem Buche zu sehen.
Denn das Grundgefühl eines Fotografen offenbart sich in seiner Stoffwahl, auch in seiner Stoffwahl – es ist nicht nur diese Auswahl, die den Typus eines Bildes bestimmt. Vielmehr wird er bestimmt von:
Dem Funken, der den Fotografen durchzuckt hat: »Das hier mußt du fotografieren!«; dem Gemisch aus handwerklichem Können und »Gefühl«, welchen Bildausschnitt er macht; demselben Gemisch bei der Entwicklung und Bearbeitung des Lichtrohstoffes –: aus alledem kann man erkennen, wes Geistes Kind der Lichtbildner ist.
Also: »Weltanschauung«? Ja und nein. Nein: wenn es etwa jener schröckliche Versuch sein soll, vage Gefühlsregungen, Philosophieersatz und das Wesen eines Menschen mit diesem Sektierwort zu umkleistern, das so nach Pflanzenbutter schmeckt … ja: wenn es heißen soll, dass auch die Fotografie nicht aus der Epoche springen kann, sondern dass auch sie ein Bestandteil des geistigen zwanzigsten Jahrhunderts ist. Auch sie.
Ein Lichtbild, losgelöst vom Hersteller, zu betrachten ist ein handwerklich enges Unterfangen. Man kann dann sehen: wie hat er gearbeitet? welche Hilfsmittel hat er verwandt? wie macht er das? was hat er versäumt … ? aber mehr auch nicht. Es gibt eine viel wichtigere Frage, die so selten gestellt wird:
Wer fotografiert?
So, wie es auf der Welt nichts Unpolitisches gibt, so gibt es auch keine unpolitische Fotografie. Unnötig zu sagen, dass hier nicht an Reichstagsfraktionen gedacht ist: ein linksdemokratisches Lichtbild … nein, das gibt es nicht. »Also wollen Sie sagen, dass es eine katholische Lichtbildnerei gibt?« Ja, das will ich sagen – und denken Sie: auf solchen Bildern brauchte kein Kreuz zu stehen, keine Monstranz und kein Priester, wie man ja überhaupt den Begriff »katholisch« meist viel zu äußerlich nimmt und statt seiner die Kulisse setzt. Doch haben die Russen recht, wenn sie den Klassenstandpunkt auch noch in solchen der Politik scheinbar fernen Gebilden sehen – wir vergessen nämlich immer, dass die bürgerlichen Voraussetzungen Mitteleuropas, auf denen die Kultur des letzten Jahrhunderts gewachsen ist, nicht vom Himmel heruntergefallen sind; solche Voraussetzung ist kein naturhaftes Ding wie der Regen, das Meer und die Blume. Nur die interessierten Verteidiger behaupten, es gehe gar nicht anders … Es geht anders.
Daher denn an den Bildern dieses Buches – wie an allen Lichtbildern – genau zu sehen ist, wer fotografiert hat. Wer fotografiert?
Sieht man von den jüngsten Versuchen der Arbeiterschaft ab, sich eine ihrer Klasse adäquate Fotografie zu schaffen, Versuche, die noch im Stadium des Anfangs stecken, noch sehr stark am Stoff kleben … sieht man von diesen Versuchen ab, so ergibt sich, dass es der kleinere und gehobene Mittelstand ist, der fotografiert. Der Mittelstand fotografiert – die geistige Oberschicht knipst.
Und weil noch bis weit über 1900 hinaus der Mittelstand die Fotografie diktatorisch beherrscht hat, lehnten es der Geistige, der Akademiker, der Professor, der Künstler ab, in diesem Treiben so etwas wie »Kunst« zu sehen – damals vielleicht nicht mit Unrecht. Diesen Standpunkt muß der Denkende heute verlassen. Fotografie ist fixierte, künstlerische Gesinnung.
Wie steht es mit ihrem Niveau? Die Gebrauchsfotografie des Professionals steht nicht, wie man denken sollte, an erster Stelle – aber gar nicht steht sie da. Das brave Bürgerportrait (1 Dutzend Visit) wankt weit hinter der Zeit, was wohl nach einem tiefen Wort Leo Trotzkis darauf beruht, dass die meisten Menschen Anachronismen ihrer eignen Epoche sind. Der einzige, der wirklich von 1929 ist, dürfte wohl der Kalender sein … Die Berufsfotografie also krankt daran, dass sie dem Kunden keine Vorschriften machen kann – er macht ihr welche, und so sehen diese Fotografien auch aus. Man gehe durch irgendeine kleinere oder mittlere Stadt und betrachte die Aushängekästen der Fotografen. Ein Lichtbildmann schildert das so: »Niveau Neustadt – Bahnhofstraße. Familienmuff; Einsegnung; Brautpaar mit Gehrock, weißem Binder und hoffentlich geschlossenem Kranz; der Nackedei mit Schafsfell auf dem Tischchen (›Wie er schon das Köpfchen hebt … ‹); Tantes Purzel beim Schönmachen und notfalls Denkmalseinweihung auf dem Markt«. Ja, das wollen die Kunden so … faule Kunden!
Auch der feinere Bildnisfotograf muß, wie sein Kollege, der Portraitmaler, viel herunterschlucken, viel mildern, retouchieren, arrangieren, drapieren … die Wahrheit wird Rechtens nackt abgebildet. So kommt es, dass der Berufsmann eigentlich von allen diesen am wenigsten Neues gibt – wenigstens nicht in seinem Atelier, wenigstens nicht für den Kunden. Manchmal darf auch er tun, was ihm beliebt – doch das in seiner freien Zeit, außerhalb des Berufs, so gewissermaßen: Immer mach du nur, aber der Ernst des Lebens, lieber Freund, sieht anders aus.
Das bezieht sich vor allem auf die Portraitfotografie, wo der niedere Geschmack des gehobenen Bürgers und auf der andern Seite der Snobismus hohe Wellen schlagen. Erst war der Kitsch süß, dann war er sauer – und heute tut er sich sachlich. Was allerdings diese Erscheinung nicht erschöpft.
Was also der Berufsfotograf wirklich nach seinem Willen und nicht nach dem des Kunden machen möchte, das ist er gezwungen, in seiner freien Zeit zu machen. Und das kostet Geld. Hat er das: Zeit und Geld? In den meisten Fällen nicht – also bleibt er manchmal im Rennen auf den hinteren Plätzen.
So rückt der Liebhaberfotograf in die ersten Reihen: der, der die Fotografie lieb hat; der das, was er macht, aus Liebe zur Sache macht, zunächst ohne Rücksicht auf Kunden, Wettbewerbe, Preise, Preis und Geld. Unter diesen Liebhabern sind es die Liebhaberinnen, die ihre männlichen Kollegen oft überflügeln – oft, nicht immer.
Unter ihnen allen aber dominiert noch sehr oft die brave Mitte; Leute, für die Ekstase mit einem x geschrieben wird, brave, nette Knaben und junge Damen, mit einem immer ansteigenden Niveau an handwerklichem Können. Über ihnen die Ausnahmen, die Spitzen, diejenigen, die aus dem Können zur Kunst gekommen sind. Kommt Kunst von Können? »Kunst kommt von Sein«, hat Alfred Polgar gesagt.
29000 Bilder hat der Herausgeber dieses Jahrbuches durchgesehen; diese hier scheinen ihm die besten zu sein. Blättern wir …
Um das einzig Negative vorwegzunehmen: was auffällt, ist der fast völlige Mangel an Humor. Wenn unsre Fotografen lustig sein wollen, dann sind sie neckisch: ein Kind auf einem Nachttöpfchen zu fotografieren, beweist noch keinen Humor, es ist nur eine Mischung von fataler Niedlichkeit und Unappetitlichkeit, das wollen wir gewiß nicht. Es gibt jedoch einen bildhaften Humor. Beispiel: die Tafel XXII der englischen »Photograms 1927«, The Mask and the Man von B. Connell. An der Wand hängt eine freundlich grienende, etwas asiatisch anmutende Maske mit Schnurr- und Kinnbart. Schräg darunter steht ein Mann, der fast ebenso aussieht wie die Maske, sie ist nicht sein Portrait, er ist nicht ihr genaues Abbild, aber sie ähneln sich sehr. Und da freut sich der Mann. Und lacht. Die Maske lacht auch. Und auf einmal springt der Gedanke auf dich zu, was das ist: Nachbilden. Was das ist: ähnlich sein. Was das ist: Bewegtes und Starres, Lebendiges und Pappmache. Eine merkwürdige Aufnahme, durchleuchtet von einem irdisch glühenden Humor.
Das kann ich hier nicht finden. Was ich finde, ist:
Eine wundervolle Technik, deren Ergebnisse auch dem Laien, grade dem Laien, eingehen. Wieviel habt ihr gelernt! Was könnt ihr nicht alles! Wie weit seid ihr –!
Ganz vorneweg Hugo Erfurth mit seinen meisterhaft einfachen Bildnissen; Moholy-Nagy, der Unerbittliche: es wird uns nichts geschenkt – kein Pickel, keine Zahnlücke, kein Fältchen; es wird uns viel geschenkt: die Erde. Gesehen durch ein Gehirn. Ganz vorneweg: E. O. Hoppé, der Saubere. Wie blitzblank ist das gemacht, wie sitzt das, wie senkt das Auge sich in die Welt! Das ist ein Großer. Da ist der Bildreporter Erich Salomon, einer, der wirklich »heimbringt«, was er gesehen hat – und er hat viel gesehen! Weiter Versuche; Neuland; vollendetes Altland – eine der merkwürdigsten Aufnahmen dieses Bandes ist das Blatt 53, auf dem Hannes Flach einen Frauenkörper fast schmerzhaft real in eine alltägliche Umgebung stellt, das Bild kippelt auf der Grenze – aber die Frau hat gesiegt. Gegenüber – auf dem Blatt 52 von Hinnerk Scheper – schwimmt die neue Zeit; selbstverständlich Bauhaus Dessau, eine zweidimensionale Frau … Frau: Platz; Stil: Sieg. Dann das beste Frauenbildnis in diesem Band: das Blatt 63 von Walter Süßmann, ein Bild, das ohne Wissen des Objekts vom Objektiv erwischt worden ist – sieh ihr in die Augen, eine Welt leuchtet daraus, ihre, unsre, deine! Blättere … Und du findest die Flucht des Menschen zu den Tieren; Rudolph Zimmermann und F. Schensky, der Einsame auf Helgoland, Albert Leon im Spessart, Paul Unger, Hedda Walther auf einsamer Höhe! Die ein wenig kühlere Bewunderung der Naturformen, die leicht frigide Feststellung, wie die Pflanzen und Fische aussehen, nur manche Bilder lassen etwas von dem glühenden Eifer ahnen, mit dem sie erjagt wurden – kaum eines von einer glühenden Liebe zur Natur. »Zu klug für die Erde – zu feige für den Himmel.« Wir sind noch nicht fromm. Wir suchen.
In Paris habe ich mir mancherlei internationale Ausstellungen angesehen.
Die Franzosen: aber zu allerunterst. Die Engländer, die Amerikaner, die Kanadier, die Japaner – zum Teil herrlich, zum Teil böser Kitsch. Die Deutschen: von einer gleichmäßigen Sauberkeit, einem hohen Niveau – wie etwa in diesem Bande, der wohl ein guter Querschnitt durch das deutsche Lichtbild ist. Es geht aufwärts.
Parzellenweis rückt die Fotografie nach vorn; sie erobert. Sieh in sie hinein: auch sie ist ein Spiegel deiner Zeit.
Peter Panter
Die Weltbühne, 27.08.1929, Nr. 35, S. 323.