Kleine Erinnerungen
»Die Welt ahnt gar nicht, wie groß der diplomatische Tiergarten ist.«
K. v. S.
Da haben also neulich Gerhart Hauptmann und Emil Ludwig das geistige Deutschland in Rom repräsentiert, und der deutsche Botschafter hat sich sehr zurückgehalten, weil er sich als nicht dazugehörig betrachtete. Nun, die Diplomaten, ihre Sitten und Gebräuche sind geheimnisvoll …
Da war vor etwa sechzig Jahren ein Herr namens Hübner österreichischer Botschafter in Rom und ein von Armin preußischer Gesandter. Worauf sich folgendes begab:
»Hübner leidet an einer furchtbaren Hochmutskrankheit, sobald Etikettenfragen aufs Tapet kommen. Als er hier von seiner Urlaubsreise vor etwa vierzehn Tagen eintraf, war Arnim bereits seit einer Woche wieder hier. Die Frage war nun die: wer von beiden soll den ersten Besuch machen? Hübner als der später Angekommene, oder Arnim als der dem Botschafter im Range Nachstehende? Sollte der letzte Umstand den Ausschlag geben, so könnte Arnim mit Recht verlangen, dass Hübner ihm seine Ankunft anzeigte, z.B. durch Zusendung einer Visitenkarte. Die verhängnisvolle Karte erschien aber nicht, weil Alexander Hübner die köstliche Theorie aufstellte, daß, da er im August auf Urlaub gegangen sei, ohne sich durch Zusendung von p.p.c.-Karten beim diplomatischen Korps zu verabschieden, er nun auch nicht nötig habe, seine Ankunft durch Kartenzusendung anzuzeigen, vielmehr sich so stellen könne, als sei er gar nicht verreist oder auf dem Lande gewesen. Nun laufen Arnim und Hübner schon seit vierzehn Tagen in Rom herum, ohne sich besucht und gesehen zu haben; und da sie bis jetzt auch noch nicht am dritten Ort zusammengetroffen sind, so will der gute Hohenlohe (Hohenlohe-Schillingsfürst, ein päpstlicher Großalmosenier) morgen eine Gelegenheit herbeiführen, damit Preußen und Osterreich wieder zusammenkommen.« – »Es ist doch scherzhaft«, fügt der Autor hinzu, »welch winzige Ideen während großer Weltfragen diese Diplomaten bewegen, von denen man noch so häufig wähnt, dass sie furchtbar wichtige Leute sind!«
Die große Weltfrage war die Auflösung des Kirchenstaates, der Brief ist im Jahre 1866 geschrieben, und sein Verfasser heißt Kurd von Schlözer, dessen »Römische Briefe« auf jeder Seite mindestens zwei Aktualitäten enthalten und eine höchst amüsante Lektüre sind. Ich weiß nicht, wie das Verhältnis der Neuraths zu den Schlözers in der heutigen Diplomatie ist, wenn ich aber einen Schlözer gefunden habe, will ich mich melden – bisher waren es alle Neuraths. Denn mit Schlözer wäre die Geschichte Hauptmann-Ludwig nicht geschehen; dazu hatte der zu viel Humor, zu viel Bildung … na, wir wollen uns das Herz nicht schwermachen. Immerhin kann ich mir kaum einen Herrn dieses Ressorts vorstellen, der so ehrlich zu sich selbst ist, dass er etwa folgendes schriebe:
»Heute ist orthodoxes Neujahr. Um diese Stunde ist in Petersburg (wo Schlözer vorher war) die ganze vornehme Welt im Winterpalais versammelt, um den Zaren Glück zu wünschen. Die Diplomaten stellen sich gegen zwölf Uhr im Saale Peters des Großen im Halbkreise auf … Hinter jedem Chef der Mission stehen seine Sekretäre … im Hintergrund gruppieren sich die Großfürsten und Großfürstinnen mit ihren Hofstaaten, um das welthistorische Schauspiel genau betrachten zu können und keinen Blick zu verlieren, der zwischen den Majestäten und den Angeredeten gewechselt wird.
In solchen Momenten kommt sich der Diplomat, vom Botschafter bis zum kleinsten Attaché, imponierend, gewaltig, als Ausdruck seines Jahrhunderts vor. Wenn dann die Szene abgespielt ist, die Schlitten und Karossen mit den galonierten Kutschern, Lakaien und Jägern vorfahren, die Wachen ins Gewehr treten, alle die Vertreter der Groß- und Kleinmächte sich in ihre dicken Pelze hüllen, ein jeder, in seinem Wagen oder Schlitten zusammengekauert, durch die zwanzig Grad Kälte nach Hause stürmt, in der warmen Stube angelangt, sich seiner Uniform und Orden entledigt, die Zigarre ansteckt, um noch einmal im Geist den jüngst durchlebten hehren Moment sich zu vergegenwärtigen – dann wird ihm wohl ums Herz, und mit der Rechten sich vor die Brust schlagend, stößt er den emphatischen Ruf aus: ›Du bist doch ein ganz höllischer Kerl!‹« –
Ja, das sind sie denn wohl auch. Aber Schlözer war doch eine andere Nummer, von der Politik ganz abgesehen – welche Seite des Blicks! Wieviel Selbstironie – aber laßt uns nicht weich werden. Er sieht sich und seinen Laden immer im Spiegel – konvex, konkav und sehr oft scharf und richtig. »Am Sonntag war Palmenweihe. Das diplomatische Korps hat bei diesen Festen stets so hervorragende Tribünenplätze, dass es aussieht, als würden die Zeremonien und Feierlichkeiten eigens für die Diplomaten aufgeführt.« Wie ja überhaupt davon auszugehen ist: hätten die Diplomaten keine Paßfreiheit, keine Befreiung von den Zollund Grenzformalitäten – wahrlich, ich sage euch: die Welt sähe anders aus. Um auf Schlözern zurückzukommen: der kannte sein Metier. Ein Mann, der so über Talleyrand denkt, ragt denn doch über die nicht allzu hohen Häuser der Wilhelmstraße hinaus.
»Dieser alte Talleyrand, dieser mir verhaßte Abgott der diplomatischen Jüngerschaft Frankreichs, Rußlands und unseres guten Deutschlands, diese Inkarnation der Frivolität und Lüge, dessen blasierte, das Menschengeschlecht verhöhnende Aussprüche von jedem dummen Attaché wie Goldkörner eines politischen Evangeliums aufgepickt und, falsch verstanden, im Schnabel geführt werden, dieser Défroqué, an dem leider die Natur so viel Witz, Geist und Verstandesschärfe verschwendet hat –«
Nein, wer so denkt und urteilt, der ist wohl mehr als nur ein Diplomat.
Im übrigen lese man das Buch; es macht viel Freude. Mit den hohen Umzugskosten der Diplomaten, die die Gewerbesteuer der freien Berufe hoffentlich decken wird, muß es damals schon so gewesen sein wie heute: »Arnims«, schreibt Schlözer von seinem Chef, »sind jetzt zur Hälfte eingerichtet; 134 große Kisten haben den Weg von München hierher gefunden … « Na, herzlichen Glückwunsch. Und man erfährt auch sonst allerlei Lustiges – können Sie sich zum Beispiel Liszt, ja ganz recht: der über Papas Klavier hing, können Sie sich den berlinernd vorstellen? Er hat aber. »Wat ick mir dafor koofe«, hat er einmal zu Schlözer gesagt. Das war kurz vor der Zeit, wo er die Soutane nahm …
Was aber Gerhart Hauptmann und Emil Ludwig angeht – so mögen sie sich trösten. Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Im österreichischen Botschaftsarchiv zu Rom fand sich ein Erlaß der wiener Staatskanzlei aus dem Jahre 1786, darin wird dem österreichischen Botschafter mitgeteilt, dass sich ein junger Deutscher nach Rom begeben habe, der sehr gefährliche Tendenzen verfolge und daher zu beaufsichtigen sei.
Der junge Deutsche hieß: Wolfgang von Goethe.
Lasset uns die Diplomaten, groß und klein, in unser Nachtgebet einschließen.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 31.05.1929, Nr. 252.