Priester und Detektiv
Der lustige Fall, dass einer einen kleinen Religionstraktat schreibt und Detektivgeschichten und nachdenklich-unterhaltsame Betrachtungen über den europäischen Gesellschaftskörper, und das alles in einem hin –: dieser Fall ist wirklich eingetreten. Wer anders kann das getan haben als unser guter dicker alter Chesterton? Habt ihr einmal ein Bild von ihm gesehen? Ihr solltet das nicht versäumen. (Dick sein ist keine physiologische Eigenschaft – das ist eine Weltanschauung.) Der Dicke also, dem der Krieg viel von seiner schönen antiken Ruhe raubte, also dass es geschah, dass er statt guter Erkenntnisse mit giftigen Invektiven aufwartete – im Gegensatz zu Wells, im Gegensatz zu Shaw, die beide mehr nachgedacht hatten – der Dicke also hat vor Jahren ein Buch vom Vater Brown geschrieben, das nun übersetzt vorliegt. (›Priester und Detektiv‹, bei Friedrich Pustet zu Regensburg und Köln, 1920.)
In den Geschichten geht es so her: ein ganz verwickelter und böser Kriminalfall harrt seiner Lösung – niemand weiß aus noch ein. Da kommt ganz zufällig, gerufen oder ungerufen, der bescheidene, unauffällige und kleine Vater Brown dazu, ein Priester, ein Sohn der katholischen Kirche, kommt, sieht, schweigt und siegt. Dieser Sherlock Holmes ist katholisch – ich hätte nie geglaubt, dass Sellerie und Spargel nebeneinander möglich wären. Es schmeckt. Es schmeckt sogar sehr gut.
Spaßig und neu ist an den Geschichten natürlich nicht die Fabel. Das kennen wir nun bis zur Übermüdung, und jeder einigermaßen gewandte Groschenjournalist in Deutschland und auf der ganzen Welt dürfte wohl nachgrade fähig sein, dergleichen zu erfinden. Spaßig ist das Beiwerk (wie fast immer in dieser Art Geschichten). Spaßig ist der unnachahmliche Chestertonsche Humor. »Glauben Sie nicht«, sagt einer, »dass es Sünde ist, Fünfpfennig-Brötchen zu essen? Man sollte sie wachsen lassen, bis sie Zehnpfennig-Brötchen geworden sind … « Spaßig sind die kleinen, scheinbar unabsichtlich eingestreuten Privatkollegs über Soziologie und das bürgerliche Leben. Als ob ich den berliner Westen vor mir sehe, den berliner Westen, wie er mit seinen Dienstboten umgeht, so ist mir, wenn ich das da lese: Es ist die Rede davon, dass in ein sehr vornehmes Diner ein Kellner hereinplatzt, offenbar mit irgendeiner Schreckensnachricht. »Der Kellner stand und starrte einige Sekunden, während auf jedem Gesicht am Tisch eine eigentümliche Scham zutage trat, durchaus ein Erzeugnis unsrer Zeit. Es ist die Vermischung des modernen Menschlichkeitsdusels mit dem schrecklichen modernen Abgrunde zwischen den Seelen der Reichen und der Armen. Ein echter historischer Aristokrat würde dem Kellner alles Mögliche an den Kopf geworfen haben, anfangend mit leeren Flaschen und aufhörend wahrscheinlich mit Bargeld. Ein echter Demokrat würde mit kameradschaftlicher Gradheit in der Stimme gefragt haben, was zum Teufel er denn habe. Aber diese modernen Plutokraten konnten einen armen Mann nicht in ihrer Nähe vertragen, weder als Sklaven noch als Freund. Brutal wollten sie nicht sein, und wohlwollend sein zu wollen, davor schreckten sie zurück.« Warum wohl nicht? Ist es das Gefühl einer Schuld … ? Und wie famos, wenn manchmal in zwei Sätzen so ein Wurfgeschoß daherflitzt: »Ich finde, dass Leute, die Diamanten stehlen, nicht von Sozialismus reden. Sie sind eher von jener Art, die ihn ablehnen.«
Von Berlin nach Hannover – und wenn ihr einen Sitzplatz bekommt und dieses Buch und wenn euch keine dicke Frau ihr Kind so lange zu halten gibt (ihr seid sicherlich Intellektuelle, also fahrt ihr Dritter) – für so eine Eisenbahnfahrt ist dieser Chesterton grade recht. Man kann ihn aber auch auf dem festen Lande lesen.
Und sollte dann nicht versäumen, die andern, ernsten Werke von ihm zu studieren: ›Häretiker‹ und ›Orthodoxie‹. Und das lustige: ›Der Mann, der Donnerstag war‹.
Peter PanterDie Weltbühne, 10.06.1920, Nr. 24, S. 700.