1. Die Kantische Philosophie
b) Das Schöne zweitens, sagt Kant, soll dasjenige sein, was ohne Begriff, d. h. ohne Kategorie des Verstandes, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird. Um das Schöne zu würdigen, bedarf es eines gebildeten Geistes; der Mensch, wie er geht und steht, hat kein Urteil über das Schöne, indem dies Urteil auf allgemeine Gültigkeit Anspruch macht. Das Allgemeine zunächst ist zwar als solches ein Abstraktum; das aber, was an und für sich wahr ist, trägt die Bestimmung und Forderung in sich, auch allgemein zu gelten. In diesem Sinne soll auch das Schöne allgemein anerkannt sein, obschon den bloßen Verstandesbegriffen kein Urteil darüber zusteht. Das Gute, das Rechte z. B. in einzelnen Handlungen wird unter allgemeine Begriffe subsumiert, und die Handlung gilt für gut, wenn sie diesen Begriffen zu entsprechen vermag. Das Schöne dagegen soll ohne dergleichen Beziehung unmittelbar ein allgemeines Wohlgefallen erwecken. Dies heißt nichts anderes, als daß wir uns bei Betrachtung des Schönen des Begriffs und der Subsumtion unter denselben nicht bewußt werden und die Trennung des einzelnen Gegenstandes und allgemeinen Begriffs, welche im Urteil sonst vorhanden ist, nicht vor sich gehen lassen.
c) Drittens soll das Schöne die Form der Zweckmäßigkeit insofern haben, als die Zweckmäßigkeit an dem Gegenstande ohne Vorstellung eines Zwecks wahrgenommen wird. Im Grunde ist damit nur das eben Erörterte wiederholt. Irgendein Naturprodukt, z. B. eine Pflanze, ein Tier, ist zweckmäßig organisiert und ist in dieser Zweckmäßigkeit unmittelbar so für uns da, daß wir keine Vorstellung des Zwecks für sich abgetrennt und verschieden von der gegenwärtigen Realität desselben haben. In dieser Weise soll uns auch das Schöne als Zweckmäßigkeit erscheinen. In der endlichen Zweckmäßigkeit bleiben Zweck und Mittel einander äußerlich, indem der Zweck zum Material seiner Ausführung in keiner wesentlichen inneren Beziehung steht. In diesem Falle unterscheidet sich die Vorstellung des Zwecks für sich von dem Gegenstande, in welchem der Zweck als realisiert erscheint. Das Schöne dagegen existiert als zweckmäßig in sich selbst, ohne daß Mittel und Zweck sich als verschiedene Seiten getrennt zeigen. Der Zweck der Glieder, z. B. des Organismus, ist die Lebendigkeit, die in den Gliedern selber als wirklich existiert; abgelöst hören sie auf, Glieder zu sein. Denn im Lebendigen sind Zweck und Materiatur des Zwecks so unmittelbar vereinigt, daß die Existenz nur insofern ist, als ihr Zweck ihr einwohnt. Von dieser Seite her betrachtet, soll das Schöne die Zweckmäßigkeit nicht als eine äußere Form an sich tragen, sondern das zweckmäßige Entsprechen des Inneren und Äußeren soll die immanente Natur des schönen Gegenstandes sein.
d) Endlich stellt die Kantische Betrachtung das Schöne viertens in der Weise fest, daß es ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens anerkannt werde. Notwendigkeit ist eine abstrakte Kategorie und deutet ein innerlich wesentliches Verhältnis zweier Seiten an; wenn das Eine ist und weil das Eine ist, ist auch das Andere. Das Eine enthält in seiner Bestimmung zugleich das Andere, wie Ursache z. B. keinen Sinn hat ohne Wirkung. Solch eine Notwendigkeit des Wohlgefallens hat das Schöne ganz ohne Beziehung auf Begriffe, d. h. auf Kategorien des Verstandes in sich. So gefällt uns z. B. das Regelmäßige wohl, das nach einem Verstandesbegriff gemacht ist, obschon Kant für das Gefallen noch mehr fordert als die Einheit und Gleichheit solches Verstandesbegriffes.
Was wir nun in allen diesen Kantischen Sätzen finden, ist eine Ungetrenntheit dessen, was sonst in unserem Bewußtsein als geschieden vorausgesetzt ist. Diese Trennung findet sich im Schönen aufgehoben, indem sich Allgemeines und Besonderes, Zweck und Mittel, Begriff und Gegenstand vollkommen durchdringen. So sieht Kant denn auch das Kunstschöne als eine Zusammenstimmung an, in welcher das Besondere selber dem Begriffe gemäß ist. Das Besondere als solches ist zunächst gegeneinander sowohl als auch gegen das Allgemeine zufällig; und dies Zufällige gerade, Sinn, Gefühl, Gemüt, Neigung, wird nun im Kunstschönen nicht nur unter allgemeine Verstandeskategorien subsumiert und von dem Freiheitsbegriff in seiner abstrakten Allgemeinheit beherrscht, sondern so mit dem Allgemeinen verbunden, daß es sich demselben innerlich und an und für sich adäquat zeigt. Dadurch ist im Kunstschönen der Gedanke verkörpert und die Materie von ihm nicht äußerlich bestimmt, sondern existiert selber frei, indem das Natürliche, Sinnliche, Gemüt usf. in sich selbst Maß, Zweck und Übereinstimmung hat und die Anschauung und Empfindung ebenso in geistige Allgemeinheit erhoben ist, als der Gedanke seiner Feindschaft gegen die Natur nicht nur entsagt, sondern sich in ihr erheitert und Empfindung, Lust und Genuß berechtigt und geheiligt ist; so daß Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Begriff in Einem ihr Recht und Befriedigung finden. Aber auch diese anscheinend vollendete Aussöhnung soll schließlich dennoch nur subjektiv in Rücksicht auf die Beurteilung wie auf das Hervorbringen, nicht aber das an und für sich Wahre und Wirkliche selbst sein.
Dies wären die Hauptresultate der Kantischen Kritik, insoweit sie uns hier interessieren kann. Sie macht den Ausgangspunkt für das wahre Begreifen des Kunstschönen, doch konnte dieses Begreifen sich nur durch die Überwindung der Kantischen Mängel als das höhere Erfassen der wahren Einheit von Notwendigkeit und Freiheit, Besonderem und Allgemeinem, Sinnlichem und Vernünftigem geltend machen.