IV.1. Der Mensch ist zur Vernunftfähigkeit organisiert

 

Um uns zu diesem Schluß vorzubereiten, so lasst uns an Menschengesichter denken, die auch nur in der weitesten Ferne ans Tier zu grenzen scheinen. Was macht sie tierisch? Was gibt ihnen diesen entehrenden groben Anblick? Der hervorgerückte Kiefer, der zurückgeschobne Kopf, kurz, die entfernteste Ähnlichkeit mit der Organisation zum vierfüßigen Gange. Sobald der Schwerpunkt verändert wird, auf dem der Menschenschädel in seiner erhabnen Wölbung ruht, so scheint der Kopf am Rücken fest, das Gebiß der Zähne tritt hervor, die Nase breitet sich platt und tierisch. Oben treten die Augenhöhlen näher zusammen, die Stirn geht zurück und bekommt von beiden Seiten den tödlichen Druck des Affenschädels. Der Kopf wird oben und hinten spitz; die Vertiefung der Hirnschale bekommt eine kleinere Weite - und das alles, weil die Richtung der Form verrückt scheint. die schöne freie Bildung des Haupts zum aufrechten Gange des Menschen.

Rückt diesen Punkt anders, und die ganze Formung wird schön und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor, und der Schädel wölbt sich mit erhabner ruhiger Würde. Die breite Tiernase zieht sich zusammen und organisiert sich höher und feiner; der zurückgetretene Mund kann schöner bedeckt werden; und so formt sich die Lippe des Menschen, die der klügste Affe entbehrt. Nun tritt das Kinn herab, um ein gerade herabgesenktes schönes Oval zu ründen; sanft geht die Wange hinan; das Auge blickt unter der vorragenden Stirn wie aus einem heiligen Gedankentempel. Und wodurch dies alles? Durch die Formung des Kopfs zur aufrechten Gestalt, durch die innere und äußere Organisation desselben zum perpendikularen Schwerpunkt.26 Wer Zweifel hierüber hat, sehe Menschen- und Affenschädel, und es wird ihm kein Schatten eines Zweifels mehr bleiben.

Alle äußere Form der Natur ist Darstellung ihres inneren Werks; und so treten wir, große Mutter, vor das Allerheiligste deiner Erdenschöpfung, die Werkstätte des menschlichen Verstandes.

Man hat sich viel Mühe gegeben, die Größe des Gehirns beim Menschen mit der Gehirnmasse anderer Tiergattungen zu vergleichen und daher Tier und Gehirn gegeneinander zu wägen. Aus drei Ursachen kann dies Wägen und diese Zahlbestimmung keine reinen Resultate geben.

1. Weil das eine Glied des Verhältnisses, die Masse des Körpers, zu unbestimmt ist und zu dem andern fein bestimmten Gliede, dem Gehirn selbst, keine reine Proportion gewährt. Wie verschiedenartig sind die Dinge, die in einem Körper wiegen! Und wie verschieden kann das Verhältnis sein, das die Natur unter ihnen feststellte! Sie wußte dem Elefanten seinen schweren Körper, selbst sein schweres Haupt durch Luft zu erleichtern, und ohngeachtet seines nicht übergroßen Gehirns ist er der Weiseste der Tiere. Was wiegt im Körper des Tiers am meisten? Die Knochen, und mit ihnen hat das Gehirn kein unmittelbares Verhältnis.

2. Ohnstreitig kommt viel darauf an, wozu das Gehirn für den Körper gebraucht werde, wohin und zu welchen Lebensverrichtungen es seine Nerven sende. Wenn man also Gehirn- und Nervengebäude gegeneinander wöge, so gäbe es schon ein feineres und dennoch kein reines Verhältnis: denn das Gewicht beider zeigt doch nie weder die Feinheit der Nerven noch die Absicht ihrer Wege.

3. Also käme zuletzt alles auf die feinere Ausarbeitung, auf die proportionierte Lage der Teile gegeneinander und, wie es scheint, am meisten auf den weiten und freien Sammelplatz an, die Eindrücke und Empfindungen aller Nerven mit der größesten Kraft, mit der schärfsten Wahrheit, endlich auch mit dem freiesten Spiel der Mannigfaltigkeit zu verknüpfen und zu dem unbekannten göttlichen Eins, das wir Gedanke nennen, energisch zu vereinen, wovon uns die Größe des Gehirns an sich nichts sagt.

Indessen sind diese berechnenden Erfahrungen27) schätzbar und geben, zwar nicht die letzten, aber sehr belehrende und weiterhin leitende Resultate, deren ich einige, um auch hier die aufsteigende Einförmigkeit des Ganges der Natur zu zeigen, anzuführen wage.

1. In den kleinern Tieren, bei denen der Kreislauf und die organische Wärme noch unvollkommen ist, findet sich auch ein kleineres Gehirn und wenigere Nerven. Die Natur hat ihnen, wie wir schon bemerkt haben, an innigem oder fein verbreitetem Reiz ersetzt, was sie ihnen an Empfindung versagen mußte; denn wahrscheinlich konnte der ausarbeitende Organismus dieser Geschöpfe ein größeres Gehirn weder hervorbringen noch ertragen.

2. In den Tieren von wärmerm Blut wächst auch die Masse des Gehirns in dem Verhältnis, wie ihre künstlichere Organisation wächset; zugleich treten hier aber auch andere Rücksichten ein, die insonderheit das Verhältnis der Nerven und Muskelkräfte gegeneinander zu bestimmen scheint. In Raubtieren ist das Gehirn kleiner; bei ihnen herrschen Muskelkräfte, und auch ihre Nerven sind großenteils Dienerinnen desselben und des tierischen Reizes. Bei grasfressenden ruhigen Tieren wird das Gehirn größer, obwohl es auch bei ihnen sich größtenteils noch in Nerven der Sinne zu verbrauchen scheint. Die Vögel haben viel Gehirn; denn sie mußten in ihrem kältern Elemente wärmeres Blut haben. Der Kreislauf ist auch zusammengedrängter in ihrem meistens kleineren Körper, und so füllt bei dem verliebten Sperlinge das Gehirn den ganzen Kopf und ist 1/5 vom Gewicht seines Körpers.

3. Bei jungen Geschöpfen ist das Gehirn größer als bei erwachsenen; offenbar weil es flüssiger und zarter ist, also auch einen größern Raum einnimmt, deswegen aber kein größeres Gewicht gibt. In ihm ist noch der Vorrat jener zarten Befeuchtung zu allen Lebensverrichtungen und innern Wirkungen, durch welche das Geschöpf sich in seinen jüngern Jahren Fertigkeiten bilden und also viel aufwenden soll. Mit den Jahren wird es trockner und fester; denn die Fertigkeiten sind gebildet da, und der Mensch sowohl als das Tier ist nicht mehr so leichter, so anmutiger, so flüchtiger Eindrücke fähig. Kurz, die Größe des Gehirns bei einem Geschöpf scheint eine notwendige Mitbedingung, nicht aber die einzige, nicht die erste Bedingung zu sein zu seiner größern Fähigkeit und Verstandesübung. Unter allen Tieren hat der Mensch, wie schon die Alten wußten, verhältnismäßig das größeste Gehirn, worin ihm aber der Affe nichts nachgibt; ja das Pferd wird hierin übertroffen vom Esel.

 


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