§ 14. Antiautoritäre Umdeutung des Charisma


§ 14. Das seinem primären Sinn nach autoritär gedeutete charismatische Legitimitätsprinzip kann antiautoritär umgedeutet werden. Denn die tatsächliche Geltung der charismatischen Autorität ruht in der Tat gänzlich auf der durch »Bewährung« bedingten Anerkennung durch die Beherrschten, die freilich dem charismatisch Qualifizierten und deshalb Legitimen gegenüber pflichtmäßig ist. Bei zunehmender Rationalisierung der Verbandsbeziehungen liegt es aber nahe: daß diese Anerkennung, statt als Folge der Legitimität, als Legitimitätsgrund angesehen wird (demokratische Legitimität), die (etwaige) Designation durch den Verwaltungsstab als »Vorwahl«, durch den Vorgänger als »Vorschlag«, die Anerkennung der Gemeinde selbst als »Wahl«. Der kraft Eigencharisma legitime Herr wird dann zu einem Herrn von Gnaden der Beherrschten, den diese (formal) frei nach Belieben wählen und setzen, eventuell auch: absetzen, – wie ja der Verlust des Charisma und seiner Bewährung den Verlust der genuinen Legitimität nach sich gezogen hatte. Der Herr ist nun der frei gewählte Führer. Ebenso entwickelt sich die Anerkennung charismatischer Rechtsweisungen durch die Gemeinde dann zu der Vorstellung: daß die Gemeinde Recht nach ihrem Belieben setzen, anerkennen und abschaffen könne, sowohl generell wie für den einzelnen Fall, – während die Fälle von Streit über das »richtige« Recht in der genuin charismatischen Herrschaft zwar faktisch oft durch Gemeindeentscheid, aber unter dem psychologischen Druck: daß es nur eine pflichtmäßige und richtige Entscheidung gebe, erledigt wurden. Damit nähert sich die Behandlung des Rechts der legalen Vorstellung. Der wichtigste Übergangstypus ist: die plebiszitäre Herrschaft. Sie hat ihre meisten Typen in dem »Parteiführertum« im modernen Staat. Aber sie besteht überall da, wo der Herr sich als Vertrauensmann der Massen legitimiert fühlt und als solcher anerkannt ist. Das adäquate Mittel dazu ist das Plebiszit. In den klassischen Fällen beider Napoleons ist es nach gewaltsamer Eroberung der Staatsgewalt angewendet, bei dem zweiten nach Prestige-Verlusten erneut angerufen worden.

Gleichgültig (an dieser Stelle), wie man seinen Realitätswert veranschlagt: es ist jedenfalls formal das spezifische Mittel der Ableitung der Legitimität der Herrschaft aus dem (formal und der Fiktion nach) freien Vertrauen der Beherrschten.

Das »Wahl«-Prinzip, einmal, als Umdeutung des Charisma, auf den Herrn angewendet, kann auch auf den Verwaltungsstab angewendet werden. Wahlbeamte, legitim kraft Vertrauens der Beherrschten, daher abberufbar durch Erklärung des Mißtrauens dieser, sind in »Demokratien« bestimmter Art, z.B. Amerika, typisch. Sie sind keine »bureaukratischen« Figuren. Sie stehen in ihrer Stellung, weil selbständig legitimiert, in schwacher hierarchischer Unterordnung und mit vom »Vorgesetzten« nicht beeinflußbaren Chancen des Aufrückens und der Verwendung (Analogien in den Fällen mehrfacher, qualitativ besonderter Charismata, wie sie z.B. zwischen Dalai Lama und Taschi Lama bestehen). Eine aus ihnen zusammengesetzte Verwaltung steht als »Präzisionsinstrument« technisch weit hinter der bureaukratisch aus ernannten Beamten gebildeten zurück.

 

1. Die »plebiszitäre Demokratie«– der wichtigste Typus der Führer-Demokratie – ist ihrem genuinen Sinn nach eine Art der charismatischen Herrschaft, die sich unter der Form einer vom Willen der Beherrschten abgeleiteten und nur durch ihn fortbestehenden Legitimität verbirgt. Der Führer (Demagoge) herrscht tatsächlich kraft der Anhänglichkeit und des Vertrauens seiner politischen Gefolgschaft zu seiner Person als solcher. Zunächst: über die für ihn geworbenen Anhänger, weiterhin, im Fall diese ihm die Herrschaft verschaffen, innerhalb des Verbandes. Den Typus geben die Diktatoren der antiken und modernen Revolutionen: die hellenischen Aisymneten, Tyrannen und Demagogen, in Rom Gracchus und seine Nachfolger, in den italienischen Städtestaaten die Capitani del popolo und Bürgermeister (Typus für Deutschland: die Zürcher demokratische Diktatur), in den modernen Staaten die Diktatur Cromwells, der revolutionären Gewalthaber und der plebiszitäre Imperialismus in Frankreich. Wo immer überhaupt nach Legitimität dieser Herrschaftsform gestrebt wurde, wurde sie in der plebiszitären Anerkennung durch das souveräne Volk gesucht. Der persönliche Verwaltungsstab wird charismatisch, aus begabten Plebejern, rekrutiert (bei Cromwell unter Berücksichtigung der religiösen Qualifikation, bei Robespierre neben der persönlichen Verläßlichkeit auch gewisser »ethischer« Qualitäten, bei Napoleon ausschließlich nach der persönlichen Begabung und Verwendbarkeit für die Zwecke der kaiserlichen »Herrschaft des Genies«). Er trägt auf der Höhe der revolutionären Diktatur den Charakter der Verwaltung kraft reinen Gelegenheitsmandats auf Widerruf (so in der Agenten- Verwaltung der Zeit der Wohlfahrtsausschüsse). Auch den durch die Reformbewegungen in den amerikanischen Städten hochgekommenen Kommunaldiktatoren hat die eigene freie Anstellung ihrer Hilfskräfte eingeräumt werden müssen. Die traditionale Legitimität ebenso wie die formale Legalität werden von der revolutionären Diktatur gleichmäßig ignoriert. Die nach materialen Gerechtigkeitsgründen, utilitarischen Zwecken und Staatsnutzen verfahrende Justiz und Verwaltung der patriarchalen Herrschaft findet in den Revolutionstribunalen und den materialen Gerechtigkeitspostulaten der radikalen Demokratie in der Antike und im modernen Sozialismus ihre entsprechende Parallele (wovon in der Rechtssoziologie zu handeln ist). Die Veralltäglichung des revolutionären Charisma zeigt dann ähnliche Umbildungen wie der entsprechende Prozeß sonst zutage fördert: so das englische Soldheer als Rückstand des Freiwilligkeitsprinzips des Glaubenskämpferheeres, das französische Präfektensystem als Rückstand der charismatischen Verwaltung der revolutionären plebiszitären Diktatur.

2. Der Wahlbeamte bedeutet überall die radikale Umdeutung der Herrenstellung des charismatischen Führers in einen »Diener« der Beherrschten. Innerhalb einer technisch rationalen Bureaukratie hat er keine Stätte. Denn da er nicht von dem »Vorgesetzten« ernannt ist, nicht in seinen Avancementschancen von ihm abhängt, sondern seine Stellung der Gunst der Beherrschten verdankt, so ist sein Interesse an prompter Disziplin, um den Beifall der Vorgesetzten zu verdienen, gering; er wirkt daher wie eine »autokephale« Herrschaft. Eine technisch hochgradige Leistung läßt sich daher mit einem gewählten Beamtenstabe in aller Regel nicht erzielen. (Der Vergleich der Wahlbeamten der amerikanischen Einzelstaaten mit den ernannten Beamten der Union und ebenso die Erfahrungen mit den kommunalen Wahlbeamten gegenüber den von den plebiszitären Reform-Mayors nach eigenem Ermessen bestellten Committees sind Beispiele.) Dem Typus der plebiszitären Führerdemokratie stehen die (später zu besprechenden) Typen der führerlosen Demokratie gegenüber, welche durch das Streben nach Minimisierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen charakterisiert ist.

Der Führerdemokratie ist dabei im allgemeinen der naturgemäße emotionale Charakter der Hingabe und des Vertrauens zum Führer charakteristisch, aus welchem die Neigung, dem Außeralltäglichen, Meistversprechenden, am stärksten mit Reizmitteln Arbeitenden als Führer zu folgen, hervorzugehen pflegt. Der utopische Einschlag aller Revolutionen hat hier seine naturgemäße Grundlage. Hier liegt auch die Schranke der Rationalität dieser Verwaltung in moderner Zeit, – die auch in Amerika nicht immer den Erwartungen entsprach.

 

Beziehung zur Wirtschaft: 1. Die antiautoritäre Umdeutung des Charisma führt normalerweise in die Bahn der Rationalität. Der plebiszitäre Herrscher wird regelmäßig sich auf einen prompt und reibungslos fungierenden Beamtenstab zu stützen suchen. Die Beherrschten wird er entweder durch kriegerischen Ruhm und Ehre oder durch Förderung ihres materiellen Wohlseins – unter Umständen durch den Versuch der Kombination beider – an sein Charisma als »bewährt« zu binden suchen. Zertrümmerung der traditionalen, feudalen, patrimonialen und sonstigen autoritären Gewalten und Vorzugschancen wird sein erstes, Schaffung von ökonomischen Interessen, die mit ihm durch Legitimitäts-Solidarität verbunden sind, sein zweites Ziel sein. Sofern er dabei der Formalisierung und Legalisierung des Rechts sich bedient, kann er die »formal« rationale Wirtschaft in hohem Grade fördern.

2. Für die (formale) Rationalität der Wirtschaft schwächend werden plebiszitäre Gewalten leicht insofern, als ihre Legitimitätsabhängigkeit von dem Glauben und der Hingabe der Massen sie umgekehrt zwingt: materiale Gerechtigkeitspostulate auch wirtschaftlich zu vertreten, also: den formalen Charakter der Justiz und Verwaltung durch eine materiale - (»Kadi«-) Justiz (Revolutionstribunale, Bezugscheinsysteme, alle Arten von rationierter und kontrollierter Produktion und Konsumtion) zu durchbrechen.

Insoweit er also sozialer Diktator ist, was an moderne sozialistische Formen nicht gebunden ist. Wann dies der Fall ist und mit welchen Folgen, ist hier noch nicht zu erörtern.

3. Das Wahl-Beamtentum ist eine Quelle der Störung formal rationaler Wirtschaft, weil es regelmäßig Parteibeamtentum, nicht fachgeschultes Berufsbeamtentum ist, und weil die Chancen der Abberufung oder der Nichtwiederwahl es an streng sachlicher und um die Konsequenzen unbekümmerter Justiz und Verwaltung hindern. Es hemmt die (formal) rationale Wirtschaft nur da nicht erkennbar, wo deren Chancen infolge der Möglichkeit, durch Anwendung technischer und ökonomischer Errungenschaften alter Kulturen auf Neu land mit noch nicht appropriierten Beschaffungsmitteln zu wirtschaften, hinlänglich weiten Spielraum lassen, um die dann fast unvermeidliche Korruption der Wahlbeamten als Spesen mit in Rechnung zu stellen und dennoch Gewinne größten Umfanges zu erzielen.

 

Für Abschnitt 1 bildet der Bonapartismus das klassische Paradigma. Unter Nap. I.: Code Napoléon, Zwangserbteilung, Zerstörung aller überkommenen Gewalten überall in der Welt, dagegen Lehen für verdiente Würdenträger; zwar [war] der Soldat alles, der Bürger nichts, aber dafür: gloire und – im ganzen – leidliche Versorgung des Kleinbürgertums. Unter Nap. III.: ausgeprägte Fortsetzung der bürgerköniglichen Parole »enrichissez-vous«, Riesenbauten, Crédit mobilier, mit den bekannten Folgen.

Für Abschnitt 2 ist die griechische »Demokratie« der perikleischen und nachperikleischen Zeit ein klassisches Beispiel. Prozesse wurden nicht, wie der römische, von dem vom Prätor bindend instruierten oder gesetzgebundenen Einzelgeschworenen und nach formalem Recht entschieden. Sondern von der nach »materialer« Gerechtigkeit, in Wahrheit: nach Tränen, Schmeicheleien, demagogischen Invektiven und Witzen entscheidenden Heliaía (man sehe die »Prozeßreden« der attischen Rhetoren, – sie finden in Rom nur in politischen Prozessen: Cicero, eine Analogie). Die Unmöglichkeit der Entwicklung eines formalen Rechts und einer formalen Rechtswissenschaft römischer Art war die Folge. Denn die Heliaia war »Volksgericht« ganz ebenso wie die »Revolutionsgerichte« der französischen und der deutschen (Räte-)Revolution, welche keineswegs nur politisch relevante Prozesse vor ihre Laien-Tribunale zogen. Dagegen hat keine englische Revolution je die Justiz, außer für hochpolitische Prozesse, angetastet. Allerdings war dafür die Friedensrichterjustiz meist Kadijustiz, – aber nur soweit sie die Interessen der Besitzenden nicht berührte, also: Polizeicharakter hatte.

Für Abschnitt 3 ist die nordamerikanische Union das Paradigma. Auf die Frage: warum sie sich von oft bestechlichen Parteileuten regieren ließen? antworteten mir anglo-amerikanische Arbeiter noch vor 16 Jahren: weil »our big country« solche Chancen böte, daß, auch wenn Millionen gestohlen, erpreßt und unterschlagen würden, doch noch Verdienst genug bleibe, und weil diese »professionals« eine Kaste seien, auf die »wir« (die Arbeiter) »spucken«, während Fachbeamte deutscher Art eine Kaste sein würden, die »auf die Arbeiter spucken« würden.

Alle Einzelheiten der Zusammenhänge mit der Wirtschaft gehören in die Sonderdarstellung weiter unten, nicht hierher.


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