Schema der Spannung
Dahingestellt lassen wir, ob nicht oder ob doch das Kindertheater, von dem nun die Rede sein wird, den genauesten Zusammenhang mit dem großen Theater auf den Höhepunkten seiner Geschichte hat. Dagegen müssen wir mit aller Entschiedenheit feststellen, daß dieses Theater nichts gemein hat mit dem der heutigen Bourgeoisie. Das Theater der heutigen Bourgeoisie wird ökonomisch durch den Profit bestimmt; soziologisch ist es vor und hinter den Kulissen vor allem Instrument der Sensation. Anders das proletarische Kindertheater. So wie der erste Griff der Bolschewiki die rote Fahne erhob, so organisierte ihr erster Instinkt die Kinder. In dieser Organisation hat sich als Zentrum das proletarische Kindertheater, Grundmotiv der bolschewistischen Erziehung, entwickelt. Zu diesem Faktum gibt es die Gegenprobe. Sie geht auf. Nichts gilt der Bourgeoisie für Kinder so gefährlich wie Theater. Das ist nicht nur ein restlicher Effekt des alten Bürgerschrecks, der kinderraubenden fahrenden Komödianten. Hier sträubt vielmehr sich das ver ängstete Bewußtsein, die stärkste Kraft der Zukunft in den Kindern durch das Theater aufgerufen zu sehen. Und dies Bewußtsein heißt die bürgerliche Pädagogik das Theater ächten. Wie würde sie erst reagieren, wo das Feuer – in welchem Wirklichkeit und Spiel für Kinder sich verschmelzen, so eins werden, daß gespielte Leiden in echte, gespielte Prügel in wirkliche übergehen können – aus der Nähe ihr spürbar wird.
Jedoch: die Aufführungen dieses Theaters sind nicht wie die der großen Bourgeoisietheater das eigentliche Ziel der angespannten Kollektivarbeit, die in den Kinderklubs geleistet wird. Hier kommen Aufführungen nebenbei, man könnte sagen: aus Versehen, zustande, beinahe als ein Schabernack der Kinder, die auf diese Weise einmal das grundsätzlich niemals abgeschlossene Studium unterbrechen. Der Leiter legt auf diesen Abschluß weniger Wert. Ihm kommt es auf die Spannungen an, welche in solchen Aufführungen sich lösen. Die Spannungen der kollektiven Arbeit sind die Erzieher. Die übereilte, viel zu späte, unausgeschlafene erzieherische Arbeit, die der bourgeoise Regisseur am Bourgeoisschauspieler vollzieht, fällt in diesem System fort. Warum? Weil im Kinderklub kein Leiter sich halten könnte, der irgendwo den echt bourgeoisen Versuch unternehmen wollte, unmittelbar als »sittliche Persönlichkeit« auf Kinder zu wirken. Moralische Einwirkung gibt es hier nicht. Unmittelbare Einwirkung gibt es hier nicht. (Und auf diesen beruht die Regie im bourgeoisen Theater.) Was zählt, ist einzig und allein die mittelbare Einwirkung des Leiters auf Kinder durch Stoffe, Aufgaben, Veranstaltungen. Die unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der Kinder selbst an sich vor. Daher kommt es, daß die Aufführungen des Kindertheaters auf Erwachsene als echte moralische Instanz wirken müssen. Es gibt keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum vorm Kindertheater. Wer noch nicht ganz verblödet ist, der wird sich vielleicht schämen.
Aber auch das führt nicht weiter. Proletarische Kindertheater erfordern, um fruchtbar zu wirken, ein Kollektiv als Publikum ganz unerbittlich. Mit einem Worte: die Klasse. Wie denn andererseits nur die Arbeiterklasse ein unfehlbares Organ für das Dasein der Kollektiva besitzt. Solche Kollektiva sind die Volksversammlung, das Heer, die Fabrik. Solch ein Kollektivum ist aber auch das Kind. Und es ist das Vorrecht der Arbeiterklasse, für das kindliche Kollektivum, welches der Bourgeoisie nie zu Gesicht kommen kann, das offenste Auge zu haben. Dieses Kollektivum strahlt nicht nur die gewaltigsten Kräfte aus, sondern die aktuellsten. Unerreicht ist in der Tat die Aktualität kindlichen Formens und Gebarens. (Wir verweisen auf die bekannten Ausstellungen der neu esten Kinderzeichnung.)
Das Kaltstellen der »moralischen Persönlichkeit« im Leiter macht ungeheure Kräfte frei für das eigentliche Genie der Erziehung: die Beobachtung. Sie allein ist das Herz der unsentimentalischen Liebe. Jede erzieherische Liebe, welcher nicht in neun Zehntel aller Fälle des Besserwissens und des Besserwollens die Beobachtung des kindlichen Lebens selbst den Mut und die Lust verschlägt, taugt nichts. Sie ist sentimental und eitel. Der Beobachtung aber – hier fängt Erziehung erst an – wird jede kindliche Aktion und Geste zum Signal. Nicht so sehr, wie dem Psychologen beliebt, Signal des Unbewußten, der Latenzen, Verdrängungen, Zensuren, sondern Signal aus einer Welt, in welcher das Kind lebt und befiehlt. Die neue Erkenntnis vom Kinde, die in den russischen Kinderklubs sich ausbildete, hat zu dem Lehrsatz geführt: das Kind lebt in seiner Welt als Diktator. Daher ist eine »Lehre von den Signalen« keine Redensart. Fast jede kindliche Geste ist Befehl und Signal in einer Umwelt, in welche nur selten geniale Menschen einen Blick eröffnet haben. Allen voran tat es Jean Paul.
Es ist die Aufgabe des Leiters, die kindlichen Signale aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stoffen zu bringen. Das geschieht in den verschiedenen Sektionen. Wir wissen, daß – um von der Malerei allein zu sprechen – das Wesentliche auch in dieser kindlichen Betätigungsform die Geste ist. Konrad Fiedler hat in seinen »Schriften über Kunst« als erster bewiesen, daß der Maler kein Mann ist, der naturalistischer, poetischer oder ekstatischer sieht als andere Leute. Vielmehr ein Mann, der mit der Hand da näher zusieht, wo das Auge erlahmt, der die aufnehmende Innervation der Sehmuskeln in die schöpferische Innervation der Hand überführt. Schöpferische Innervation in exaktem Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste. Die Entwicklung dieser kindlichen Geste zu den verschiedenen Formen des Ausdrucks, als Anfertigung von Requisiten, Malerei, Rezitation, Musik, Tanz, Improvisation fällt den verschiedenen Sektionen zu.
In ihnen allen bleibt die Improvisation zentral; denn schließlich ist die Aufführung nur die improvisierte Synthese aus ihnen. Die Improvisation herrscht; sie ist die Verfassung, aus der die Signale, die signalisierenden Gesten auftauchen. Und Aufführung oder Theater muß eben darum die Synthese dieser Gesten sein, weil nur sie die unversehentliche Einmaligkeit hat, in welcher die kindliche Geste als in ihrem echten Raume steht. Was man als runde »Leistung« aus Kindern herausquält, kann nie an Echtheit mit der Improvisation sich messen. Der aristokratische Dilettantismus, der es auf solche »Kunstleistungen« der armen Zöglinge abgesehen hatte, füllte schließlich nur deren Schränke und Gedächtnis mit Plunder, der sehr pietätvoll behütet wurde, um in Erinnerung an die frühere Jugend die eigenen Kinder wiederum zu plagen. Nicht auf die »Ewigkeit« der Produkte, sondern auf den »Augenblick« der Geste stellt alle kindliche Leistung es ab. Das Theater als die vergängliche Kunst ist die kindliche.