viii
Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Zimmern und Zimmerchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden, und zwar zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich ihrerseits nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als junger eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos auf, viel mehr, als sie wert war, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellte ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich sah, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene.
Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an „gut empfohlene“ Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a. D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja1; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater warten und beaufsichtigen, denn das wurde bei diesem von Tag zu Tag mehr notwendig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst in die von der Familie eingenommene Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das sich, sooft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch nur vormittags Salon war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte.
Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich; und etwas vergrämt, aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck, gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen, aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung zeugten von einer Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.
Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Fähigkeit besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber schon etwas zu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten, ja sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in letzter Zeit sogar angefangen, ihm Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.
Ganja, der seine Mutter sehr trocken und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohne Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.
„Wo ist denn Ihr Gepäck?“ fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.
„Ich habe nur ein Bündelchen, das habe ich im Vorzimmer gelassen.“
„Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrjona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja2 beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?“
„Ja.“
„Ist es in der Schweiz schön?“
„Ja, sehr schön.“
„Sind da Berge?“
„Ja.“
„Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.“
Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.
„Matrjona wird Ihnen sofort das Bett beziehen. Haben Sie einen Koffer?“
„Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen, es ist im Vorzimmer.“
„Es ist kein Bündel da, außer diesem kleinen; wo haben Sie es denn hingelegt?“ fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.
„Außer diesem habe ich keins“, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.
„So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.“
„Schwatz keinen Unsinn!“ sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur so eben noch höflichen Redeweise.
„Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen, ich bin ja nicht Ptizyn.“
„Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrjona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!“
„Nun, dann gehen wir, du resoluter Charakter!“
Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.
„Ist Vater zu Hause?“ fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.
Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.
„Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen … Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Ihnen nicht zu große Anstrengung kostet, so reden Sie weder hier von dem, was eben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden, denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel! … Halten Sie wenigstens heute damit zurück!“
„Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben“, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.
Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter.
„Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Worte, ich bitte Sie darum.“
„Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bilde zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.“
„Pfui, was für ein häßliches Zimmer!“ bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. „So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen … Na, das ist nicht meine Sache; für die Wohnung bin ich nicht zuständig.“
Ptizyn blickte herein und rief Ganja; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, obwohl er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, aber er hatte gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit.
Kaum hatte der Fürst sich gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür wieder öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute.
Es war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen erweckte er den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber.
Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hineinstecken konnte. Dieser hineingesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um, dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar, aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und setzte ihn schräg gegenüber auf das Sofa.
„Mein Name ist Ferdyschtschenko“, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte.
„Nun, und?“ antwortete der Fürst beinahe lachend.
„Ich bin hier Untermieter“, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend.
„Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?“
„Ach was!“ brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke. „Haben Sie Geld?“ fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend.
„Nur wenig.“
„Also wieviel?“
„Fünfundzwanzig Rubel.“
„Zeigen Sie mal her!“
Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht.
„Es ist doch recht merkwürdig“, sagte er wie in Nachdenken versunken, „woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere dagegen ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!“
Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhle auf.
„Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: erstens, leihen Sie mir niemals Geld, denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.“
„Gut.“
„Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?“
„Allerdings.“
„Ich beabsichtige es nicht, fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür, haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen, da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?“
„Nein.“
„Auch noch nicht gehört?“
„Natürlich nicht.“
„Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar mich anzupumpen! Avis au lecteur! Leben Sie wohl. Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?“
„Warum denn nicht?“
„Leben Sie wohl.“
Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur Pflicht gemacht hatte, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm wirklich schmerzlich war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang.
Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Rock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps, aber sein Benehmen war effektvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände.
„Er ist es! Er ist es!“ sagte er leise, aber in feierlichem Ton. „Als stünde er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit … Sie sind Fürst Myschkin?“
„Ganz richtig.“
„General a. D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?“
„Lew Nikolajewitsch.“
„Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!“
„Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.“
„Lwowitsch“, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff gleichfalls den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. „Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.“
„In der Tat?“ fragte der Fürst. „Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.“
„Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.“
„Mein Vater war ebenfalls beim Militär, er war Leutnant im Wassilkowschen Regiment.“
„Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tode. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter …“
Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.
„Auch sie“, sagte der Fürst, „starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.“
„Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! O Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.“
Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.
„Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens, es war noch nicht sieben Uhr, kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begriff alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Tuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen in Strömen aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden, gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ‚Sie sei dein!‘ Ich rief: ‚Sie sei dein!‘ Mit einem Worte … mit einem Worte … Sie wollen bei uns wohnen … bei uns wohnen?“
„Ja, vielleicht, für einige Zeit“, antwortete der Fürst etwas stockend.
„Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten“, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.
Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen, aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.
„Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen“, sagte der General. „Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten, aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer — ein unerhörter Niedergang der Familie! … So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen! … Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Hause eine schlimme Tragödie ab!“
Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.
„Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten! … Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht, ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen werden, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt …“
„Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!“ rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.
„Denke dir nur, liebe Frau“, rief der General, „es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!“
Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu; sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.
„Der Sohn meines Freundes!“ rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. „Und so unerwartet! Ich hatte schon längst nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt … in Twer?“
„Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?“ fragte sie den Fürsten.
„Jawohl, aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad“, bemerkte, zu dem General gewendet, der Fürst schüchtern. „Ich habe es von Pawlischtschew gehört …“
„Es war in Twer“, erklärte der General in bestimmtem Ton. „Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tode stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, obwohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.“
„Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?“
„Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tode Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbette …“
„Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft“, bemerkte der Fürst wieder, „obwohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.“
„Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.“
„So? Wissen Sie das bestimmt?“ fragte der Fürst lebhaft interessiert.
„Und ob!“ rief der General. „Das Kriegsgericht ging auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst — wohlgemerkt, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals — macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich, aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr nachher, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Divison gehörte wie unser Regiment!“
„Wie!“ rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.
„Es verhält sich nicht so, das ist ein Irrtum!“ wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn fast bekümmert ansah. „Mon mari se trompe.“ „Aber liebe Frau, se trompe, das ist leicht gesagt, aber kläre du doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe. Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu, aber …“
„Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt“, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.
„Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger … Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite …“
„Die Suppe wird wieder kalt werden“, drängte Warwara ungeduldig.
„Gleich, gleich!“ murmelte der General und verließ das Zimmer. „Und trotz aller Nachforschungen …“, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.
„Sie werden meinem Manne Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben“, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. „Er wird Sie übrigens nicht zuviel belästigen, er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine … besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Zimmer wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt berücksichtigt werden, aber ich bitte Sie einzig um der Ordnung willen darum … Was ist, Warja?“
Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.
„Sie hat es ihm heute selbst geschenkt“, sagte Warja, „und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.“
„Heute abend!“ wiederholte Nina Alexandrowna halblaut, wie in Verzweiflung. „Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt … Hat er es dir denn selbst gezeigt?“ fügte sie erstaunt hinzu.
„Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden, da habe ich es aufgehoben.“
„Fürst“, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, „ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierherbitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?“
Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, wobei er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.
„Wenn ich Sie danach frage“, bemerkte Nina Alexandrowna, „so tue ich es nicht etwa in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte eigentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ‚Er weiß alles, man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‘ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade …“
Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.
„Also heute, Ganja?“ fragte Nina Alexandrowna plötzlich.
„Was heute?“ rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. „Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier … Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht …“
„Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein anderer“, unterbrach ihn Ptizyn.
Ganja blickte ihn fragend an.
„Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, als von der einen Seite die Sache erledigt ist“, murmelte Ptizyn; dann ging er beiseite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf. Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerer Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen kam ihm gar nicht in den Sinn.
„Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht“, sagte Nina Alexandrowna. „Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe, tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!“
Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu:
„Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen, von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen …“
„Ah, immer wieder sie!“ rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. „Mamachen, ich schwöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich Ihnen gegenüber etwas herauszunehmen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet …“
Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah.
„Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person gefürchtet, Ganja, das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles abgeschlossen werden? Was wird denn abgeschlossen werden?“
„Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht“, antwortete Ganja.
„Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles beschlossen ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du sie denn wirklich, eine so … so …“
„Na, eine so erfahrene Person, nicht wahr?“
„Ich wollte mich nicht so ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?“
Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit. Ganja stand eine Weile da und überlegte, dann sagte er mit unverhohlenem Spott:
„Sie haben sich hinreißen lassen, Mamachen, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben Sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg, wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt … Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein anderer würde vor einer solchen Schwester mindestens davonlaufen — da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir auf davon! Ich freute mich schon so … Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will, basta! Na, nun aber wirklich genug!“
Ganja war bei jedem Worte hitziger geworden und ging nun ziellos im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten.
„Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten“, erklärte Warja.
„Aus Eigensinn!“ rief Ganja. „Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna, wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?“ schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob.
Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Erregung empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, nahezu mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern, aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggange noch lärmender und rücksichtsloser geworden war.
Er ging durch das Wohnzimmer ins Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln; die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, zitterte nur und gab keinen Ton. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und — prallte erstaunt, am ganzen Leibe zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild. Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte, sie trat, ihn mit der Schulter beiseite stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf:
„Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!“
Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen, aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen.
„Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!“
Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging.
„Na, jetzt zieht er gar mit dem Pelz los! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Bist wohl verrückt, wie?“
Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen.
„Nein, was für ein Idiot!“ rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. „Na, wohin gehst du nun? Na, wen meldest du?“
„Nastasja Filippowna“, murmelte der Fürst.
„Woher kennst du mich?“ fragte sie schnell. „Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich! … Was ist denn da für ein Geschrei?“
„Sie zanken sich“, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon.
Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick ein. Nina Alexandrowna war auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich „in alles gefügt“ hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie überhaupt ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Worte, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief:
„Nastasja Filippowna!“