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xiii

Der Fürst befand sich, als er die Treppe hinaufstieg, in großer Unruhe und suchte sich mit aller Kraft Mut zu machen. ‚Das Schlimmste‘, dachte er, ‚kann doch nur sein, daß sie mich nicht empfängt und irgend etwas Schlechtes von mir denkt, oder auch vielleicht, daß sie mich empfängt und mir ins Gesicht lacht … Ach was! Daraus will ich mir nichts machen!‘ Und in der Tat ängstigte ihn dies nicht so besonders, aber die Frage, warum er eigentlich dorthin ging und was er dort wollte, auf diese Frage fand er schlechterdings keine befriedigende Antwort. Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, eine günstige Gelegenheit abzupassen und zu Nastasja Filippowna zu sagen: ‚Heiraten Sie diesen Menschen nicht, und richten Sie sich nicht zugrunde; er liebt Sie nicht, er liebt nur Ihr Geld, das hat er mir selbst gesagt, und auch Aglaja Jepantschina hat es mir gesagt, und ich bin hergekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen‘, so würde, sagte er sich, auch das nicht in jeder Beziehung korrekt sein. Und noch eine andere ungelöste Frage trat ihm vor die Seele, eine so wichtige Frage, daß der Fürst sich sogar fürchtete, an sie auch nur zu denken, daß er gar nicht wagte, sie als zulässig zu betrachten und zu formulieren, sondern bei dem bloßen Gedanken an sie errötete und zu zittern begann. Aber das Ende war doch, daß er trotz all dieser Befürchtungen und Zweifel eintrat und nach Nastasja Filippowna fragte.

Nastasja Filippowna hatte eine nicht sehr große, aber wirklich prachtvoll ausgestattete Wohnung. In den fünf Jahren ihres Petersburger Aufenthalts hatte es zuerst eine Zeit gegeben, wo Afanassij Iwanowitsch ganz besonders viel Geld für sie aufwandte; er rechnete damals noch auf ihre Liebe und hoffte, sie namentlich durch Komfort und Luxus zu betören, denn er wußte, wie leicht man sich an den Luxus gewöhnt und wie schwer es einem nachher fällt, auf ihn zu verzichten, wenn er allmählich zum Bedürfnis geworden ist. In dieser Hinsicht blieb Tozkij den alten, guten Traditionen treu und änderte nichts an ihnen, da er die unüberwindliche Macht der sinnlichen Eindrücke außerordentlich hoch anschlug. Nastasja Filippowna verhielt sich gegen den Luxus nicht ablehnend, sie liebte ihn sogar, aber — und dies erschien sehr merkwürdig — sie ließ sich von ihm nicht unterjochen, sondern machte den Eindruck, als könne sie ihn auch jederzeit entbehren; sie sprach das sogar mehrmals absichtlich aus, wodurch Tozkij sich unangenehm berührt fühlte. Übrigens hatte Nastasja Filippowna gar manches an sich, wovon Afanassij Iwanowitsch nicht sonderlich erbaut war, ein Gefühl, das sich in der Folgezeit sogar bis zur Verachtung steigerte. Ganz abgesehen davon, daß sie manchmal, und offenbar aus persönlicher Neigung, Leute an sich heranzog, die das Gegenteil von elegant waren, traten bei ihr auch noch einige andere ganz seltsame Neigungen hervor: es zeigte sich eine barbarische Vermischung zweier verschiedener Geschmacksrichtungen, ferner eine Fähigkeit, auf gewisse Genüsse zu verzichten und sich statt dessen mit andern zu begnügen, die ein anständiger, feingebildeter Mensch als gar nicht vorhanden betrachtet. In der Tat, hätte — um ein Beispiel anzuführen — Nastasja Filippowna irgendeine liebenswürdige, vornehme Unwissenheit bekundet, etwa eine Unkenntnis der Tatsache, daß Bäuerinnen nicht weißen Batist tragen können, wie sie ihn trug, so wäre Afanassij Iwanowitsch damit wohl ganz zufrieden gewesen. Auf solche Resultate zielte ursprünglich nach Tozkijs Programm, der auf diesem Gebiet ein großer Sachverständiger war, Nastasja Filippownas ganze Erziehung ab, aber leider kamen statt dessen ganz sonderbare Resultate zutage. Trotzdem jedoch lagen in Nastasja Filippownas Wesen noch manche Eigenschaften, die mitunter sogar Afanassij Iwanowitsch selbst durch ihre ungewöhnliche, reizvolle Originalität und ihre urwüchsige Kraft anzogen und ihn bisweilen auch jetzt noch entzückten, wo schon all seine früheren Spekulationen auf Nastasja Filippowna zusammengestürzt waren.

Dem Fürsten öffnete ein Mädchen (Nastasja Filippowna hielt sich stets nur weibliche Dienerschaft) und hörte zu seiner Verwunderung seine Bitte, ihn zu melden, ohne jedes Erstaunen an. Weder seine schmutzigen Stiefel noch sein breitkrempiger Hut, noch sein ärmelloser Mantel, noch seine verlegene Miene machten sie auch nur im geringsten stutzig. Sie nahm ihm den Mantel ab, forderte ihn auf, im Empfangszimmer zu warten, und ging sogleich, um ihn zu melden.

Die Gesellschaft, die sich bei Nastasja Filippowna versammelt hatte, bestand aus ihren ständigen Bekannten, die immer bei ihr verkehrten. Es waren sogar nur ziemlich wenige Gäste anwesend im Vergleich mit den Veranstaltungen, die in früheren Jahren an demselben Tage stattgefunden hatten. Erschienen waren erstens und als Hauptpersonen Afanassij Iwanowitsch Tozkij und Iwan Fjodorowitsch Jepantschin; beide benahmen sich sehr liebenswürdig, aber beide befanden sich in einer gewissen geheimen Unruhe durch die nur schlecht verhehlte Spannung auf die versprochene Entscheidung über Ganja. Außer ihnen war selbstverständlich auch Ganja da — sehr düster, nachdenklich und höchst „unliebenswürdig“; er stand meist in einiger Entfernung abseits und schwieg. Was Warja anlangt, so hatte er sich dafür entschieden, sie lieber nicht mitzubringen, aber Nastasja Filippowna tat ihrer gar nicht Erwähnung; dagegen fing sie unmittelbar nach Ganjas Begrüßung an, von der Szene zu sprechen, die er vorher mit dem Fürsten gehabt hatte. Der General, der noch nichts davon gehört hatte, interessierte sich sehr dafür. Ganja erzählte in trockenem, ruhigem Ton, aber vollkommen wahrheitsgemäß alles, was sich vor kurzem begeben hatte, und daß er bereits zum Fürsten hingegangen sei, um ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei sprach er mit großer Lebhaftigkeit seine Meinung dahin aus, wenn man den Fürsten einen Idioten nenne, so sei das sehr sonderbar und ein Grund dafür unerfindlich; er sei vollständig entgegengesetzter Ansicht und halte ihn für einen sehr selbständig denkenden Menschen. Nastasja Filippowna hörte diese Äußerung mit großer Aufmerksamkeit an und verfolgte neugierig Ganjas Mienenspiel, aber das Gespräch ging sogleich auf Rogoshin über, der bei den Vorgängen des Vormittags so stark beteiligt gewesen war und für den Afanassij Iwanowitsch und Iwan Fjodorowitsch sich gleichfalls äußerst lebhaft zu interessieren begannen. Besondere Mitteilungen über Rogoshin zu machen, war, wie sich herausstellte, Ptizyn in der Lage, der sich in dessen geschäftlichen Angelegenheiten mit ihm fast bis neun Uhr abends abgemüht hatte. Rogoshin hatte mit aller Energie darauf bestanden, noch heute hunderttausend Rubel zu bekommen. „Er war allerdings betrunken“, bemerkte Ptizyn dabei, „aber trotz aller Schwierigkeiten werden die hunderttausend Rubel wohl für ihn beschafft werden, nur weiß ich nicht, ob heute noch ganz, aber es arbeiten viele daran, Trepalow, Kinder, Biskup; Prozente gibt er, soviel einer verlangt, natürlich alles in seiner Trunkenheit und in der ersten Freude …“, schloß Ptizyn.

Alle diese Mitteilungen wurden mit Interesse entgegengenommen, zum Teil allerdings mit düsterem Interesse; Nastasja Filippowna schwieg und wünschte offenbar nicht, sich zu äußern; auch Ganja redete nicht. General Jepantschin beunruhigte sich im stillen nicht weniger als die andern; der Perlenschmuck, den er schon am Vormittag überreicht hatte, war mit sehr kühler Freundlichkeit und sogar mit einem eigentümlichen Lächeln in Empfang genommen worden. Ferdyschtschenko war von allen Gästen der einzige, der sich in heiterer, festtäglicher Stimmung befand; er lachte manchmal laut ohne sichtbaren Grund, lediglich weil er die Rolle des Spaßmachers übernommen hatte. Afanassij Iwanowitsch selbst, der für einen geistreichen, eleganten Plauderer galt und in früherer Zeit bei diesen Abendgesellschaften gewöhnlich das Gespräch geleitet hatte, befand sich offenbar nicht in der rechten Stimmung und sogar in einer ihm sonst fremden Verwirrung. Die andern Gäste, die übrigens wenig zahlreich waren (ein jämmerlicher, alter Lehrer, der Gott weiß weshalb eingeladen war, ein unbekannter, sehr jugendlicher Mensch, der furchtbar schüchtern war und die ganze Zeit über schwieg, eine gewandte, etwa vierzigjährige Dame, Schauspielerin, und eine außerordentlich hübsche, sehr schön und luxuriös gekleidete und überaus stille junge Frau), vermochten das Gespräch nicht sonderlich zu beleben, ja, sie wußten manchmal gar nicht, wovon sie sprechen sollten.

Unter diesen Umständen kam das Erscheinen des Fürsten sogar sehr gelegen. Die Meldung von seiner Ankunft rief einige Verwunderung und ein eigentümliches Lächeln hervor, namentlich als die Gäste an Nastasja Filippownas erstauntem Gesicht merkten, daß es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ihn einzuladen. Aber nach diesem ersten Erstaunen bekundete Nastasja Filippowna auf einmal eine solche Freude, daß die Mehrzahl der Anwesenden sich sogleich anschickte, den unerwarteten Gast mit Lachen und Heiterkeit zu empfangen.

„Er tut das allerdings aus Naivität“, bemerkte Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, „und es ist jedenfalls nicht ungefährlich, solche Neigungen zu ermutigen; aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wirklich nicht übel, daß er auf den Einfall gekommen ist, hier zu erscheinen, wenn auch in so origineller Manier. Er wird vielleicht zu unserer Erheiterung beitragen, soweit ich wenigstens über ihn urteilen kann.“

„Das muß er um so mehr, als er sich eingedrängt hat!“ fügte Ferdyschtschenko rasch hinzu.

„Was soll das heißen?“ fragte trocken der General, der Ferdyschtschenko nicht leiden konnte.

„Er muß eben Eintrittsgeld bezahlen“, erwiderte dieser erläuternd.

„Nun, Fürst Myschkin ist denn doch: kein Ferdyschtschenko“, konnte sich der General nicht enthalten zu entgegnen. Er konnte sich immer noch nicht darein finden, daß er sich mit Ferdyschtschenko in ein und derselben Gesellschaft befinden und mit ihm auf gleichem Fuße verkehren sollte.

„Ei, ei, General, vergreifen Sie sich nicht an Ferdyschtschenko“, antwortete dieser schmunzelnd. „Ich habe hier meine besonderen Privilegien.“

„Was für Privilegien?“

„Ich hatte das vorige Mal die Ehre, es der Gesellschaft ausführlich auseinanderzusetzen, und will es jetzt für Euer Exzellenz noch einmal wiederholen. Wollen Euer Exzellenz folgendes erwägen: alle Menschen sind geistreich, nur ich besitze diese Eigenschaft nicht. Zum Ausgleich habe ich mir die Erlaubnis erwirkt, die Wahrheit sagen zu dürfen, da allen bekannt ist, daß die Wahrheit nur Leute sagen, denen es an Geist mangelt. Außerdem bin ich ein sehr rachsüchtiger Mensch, und zwar wieder eben deswegen, weil ich nicht geistreich bin. Ich ertrage demütig jede Beleidigung, aber nur so lange, bis es meinem Beleidiger einmal schiefgeht; sowie das eintritt, erinnere ich mich sofort an die Beleidigung und räche mich irgendwie, ich schlage aus, wie Iwan Petrowitsch Ptizyn einmal von mir sagte, der natürlich für seine Person nie gegen jemand ausschlägt. Kennen Euer Exzellenz die Krylowsche Fabel ‚Der Löwe und der Esel‘? Na, die paßt auf uns beide, auf Sie und mich, die ist auf uns zugeschnitten.“

„Sie sind wohl wieder einmal ins Faseln gekommen, Ferdyschtschenko!“ brauste der General auf.

„Aber was haben Sie denn, Exzellenz?“ erwiderte Ferdyschtschenko, der darauf gerechnet hatte, ein Wortgefecht herbeizuführen und weiterzusalbadern. „Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz, ich kenne meinen Platz: wenn ich sagte, daß Sie und ich der Löwe und der Esel aus der Krylowschen Fabel seien, so übernehme ich natürlich die Rolle des Esels und Euer Exzellenz die des Löwen, wie es ja auch in der Krylowschen Fabel heißt:

‚Der mächt'ge Leu, der einst die Wälder Erschreckte, war nun altersschwach.‘

Ich aber, Exzellenz, bin der Esel.“

„Mit letzterem bin ich einverstanden“, platzte der General heraus.

Alles, was Ferdyschtschenko da sagte, war ja plump, absichtlich plump, aber es war nun einmal üblich geworden, daß man Ferdyschtschenko die Rolle eines Clowns spielen ließ.

„Nur deshalb verstattet man mir ja hier den Zutritt und duldet mich“, hatte Ferdyschtschenko einmal erklärt, „damit ich in diesem Ton rede. In der Tat, könnte man sonst einen Menschen meiner Art empfangen? Ich begreife ja das alles. Na, kann man etwa mich, den armseligen Ferdyschtschenko, neben einen so feinen Gentleman wie Afanassij Iwanowitsch setzen? Wenn man es doch tut, so gibt es dafür nur eine Erklärung: man tut es eben deshalb, weil es undenkbar ist.“

Aber wenn er auch gewöhnlich plump war, so war er doch auch oft bissig, und manchmal sogar in hohem Grade, und das war es, woran Nastasja Filippowna Gefallen zu finden schien. Wer bei ihr zu verkehren wünschte, dem blieb nichts anderes übrig, als diesen Ferdyschtschenko zu ertragen. Er hatte vielleicht wirklich die volle Wahrheit erraten, als er die Vermutung aussprach, daß sie ihn deswegen empfange, weil er gleich bei seiner ersten Anwesenheit auf Tozkij einen unerträglichen Eindruck gemacht hatte. Ganja seinerseits mußte sich von ihm ein endlose Reihe von Martern gefallen lassen, und in dieser Hinsicht wußte sich Ferdyschtschenko seiner Gönnerin sehr nützlich zu machen.

„Zuerst werde ich vom Fürsten verlangen, daß er uns ein modernes Lied vorsingt“, bemerkte Ferdyschtschenko und paßte auf, was Nastasja Filippowna dazu sagen würde.

„Ich glaube nicht, daß er das tun wird, Ferdyschtschenko, und möchte Sie bitten, sich nicht zu sehr ins Zeug zu legen.“

„Ah, ah! Nun, wenn er unter Ihrem besonderen Schutz steht, dann werde auch ich mich erweichen lassen …“

Aber Nastasja Filippowna stand, ohne hinzuhören, auf und ging selbst dem Fürsten entgegen.

„Ich habe bedauert“, sagte sie, plötzlich vor ihn hintretend, „daß ich vorhin in der Eile vergessen habe, Sie einzuladen, und ich freue mich sehr, daß Sie mir jetzt selbst die Gelegenheit geben, Ihr entschlossenes Verhalten zu loben und Ihnen zu danken.“

Während sie das sagte, blickte sie den Fürsten forschend an, bemüht, über den Grund seines Kommens Klarheit zu erlangen.

Der Fürst hätte auf ihre freundlichen Worte vielleicht etwas erwidert, aber er war dermaßen von ihrer Erscheinung überrascht und geblendet, daß er kein Wort herausbringen konnte. Nastasja Filippowna bemerkte dies mit Vergnügen. Sie war an diesem Abend in großer Toilette und machte einen außerordentlich starken Eindruck. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gästen. Unmittelbar vor dem Eingang in den Salon blieb der Fürst plötzlich stehen und flüsterte ihr in großer Erregung hastig zu:

„An Ihnen ist alles vollkommen … sogar Ihre Abgezehrtheit und Blässe … man möchte Sie sich gar nicht anders vorstellen … Ich hatte ein so starkes Verlangen, zu Ihnen zu gehen … ich … verzeihen Sie mir …“

„Bitten Sie nicht um Verzeihung“, erwiderte lachend Nastasja Filippowna, „dadurch wird Ihre ganze Sonderbarkeit und Originalität zerstört. Und es wird doch mit Recht über Sie gesagt, daß Sie ein sonderbarer Mensch seien. Also Sie halten mich für vollkommen, ja?“

„Ja.“

„Sie sind zwar sonst ein Meister im Erraten, aber hier haben Sie sich geirrt. Ich werde Sie noch heute daran erinnern.“

Sie stellte den Fürsten den Gästen vor, von denen er der größeren Hälfte bereits bekannt war. Tozkij sagte ihm sogleich eine Liebenswürdigkeit. Alle schienen etwas lebendiger zu werden, alle begannen auf einmal zu reden und zu lachen. Nastasja Filippowna wies dem Fürsten einen Platz an ihrer Seite zu.

„Aber was ist denn eigentlich an dem Erscheinen des Fürsten so Verwunderliches?“ überschrie Ferdyschtschenko alle. „Die Sache ist doch klar, die Sache spricht für sich selbst!“

„Die Sache ist nur zu klar und spricht nur zu sehr für sich selbst!“ sagte auf einmal Ganja, der bisher geschwiegen hatte. „Ich habe den Fürsten bis heute fast ununterbrochen beobachtet, von dem Augenblick an, als er in Iwan Fjodorowitschs Wohnung zum erstenmal Nastasja Filippownas Bild auf dem Tische liegen sah. Ich erinnere mich sehr genau, daß mir gleich damals ein Gedanke an das kam, was mir jetzt zur vollen Überzeugung geworden ist, und was mir, beiläufig gesagt, der Fürst selbst gestanden hat!“

Ganja hatte das alles sehr ernst, ohne die geringste Spur von Scherzhaftigkeit, ja mit finsterer Miene gesagt, was einen ziemlich seltsamen Eindruck machte.

„Ich habe Ihnen keine Geständnisse gemacht“, antwortete der Fürst errötend, „ich habe nur eine Frage beantwortet, die Sie an mich richteten.“

„Bravo, bravo!“ rief Ferdyschtschenko. „Das ist wenigstens aufrichtig gesprochen, aufrichtig und zugleich schlau!“

Alle lachten laut.

„Schreien Sie doch nicht so, Ferdyschtschenko“, sagte Ptizyn mit gedämpfter Stimme unwillig zu ihm.

„Solche Bravourstücke hätte ich wahrhaftig nicht von Ihnen erwartet, Fürst“, bemerkte Iwan Fjodorowitsch. „Zu welcher Menschenklasse muß man Sie danach rechnen? Und ich hatte Sie für einen Philosophen gehalten! Ja, ja, die stillen Wässerchen!“

„Und daraus, daß der Fürst bei einem harmlosen Scherz rot wird wie ein unschuldiges junges Mädchen, schließe ich, daß er als ein ehrenwerter Jüngling in seinem Herzen die löblichsten Absichten hegt“, sagte, oder richtiger lispelte auf einmal ganz unerwartet der zahnlose siebzigjährige Lehrer, der bis dahin vollständig stumm gewesen war und von dem niemand hatte erwarten können, daß er im Laufe des Abends überhaupt ein Wort reden würde.

Alle lachten nur noch mehr. Der Alte, der wahrscheinlich glaubte, man lache über seine geistreiche Bemerkung, begann, alle ansehend, noch stärker als sie zu lachen, wobei er in ein heftiges Husten hineingeriet, so daß Nastasja Filippowna, die wunderlicherweise für all solche originellen Greise, Greisinnen und selbst Narren eine besondere Schwäche hatte, sogleich anfing, ihn zu liebkosen und zu küssen, und ihm noch Tee reichen ließ. Von der eintretenden Dienerin ließ sie sich eine Mantille bringen, in die sie sich einhüllte; auch gab sie Befehl, noch Holz im Kamin nachzulegen. Auf die Frage, wie spät es sei, antwortete die Dienerin, es sei schon halb elf.

„Meine Herren, wollen Sie nicht Champagner trinken?“ schlug Nastasja Filippowna plötzlich vor. „Ich habe alles vorbereiten lassen. Vielleicht wird Sie das lustiger machen. Bitte, ohne sich zu genieren!“

Die Einladung zu trinken, und namentlich in so naiven Ausdrücken, machte sich von Nastasja Filippownas Seite recht sonderbar. Alle kannten die strenge Etikette, die auf ihren früheren Abendgesellschaften geherrscht hatte. Überhaupt gestaltete sich dieser Abend lustiger, aber in ungewöhnlicher Weise. Die Aufforderung zum Champagnertrinken lehnten die Gäste nicht ab; zuerst nahm sie der General an, dann die gewandte Dame, der alte Lehrer, Ferdyschtschenko, danach alle andern. Auch Tozkij griff nach einem Glase, in der Hoffnung, dem neuen Ton, der jetzt angeschlagen war, eine gewisse harmonische Färbung zu verleihen, indem er ihm nach Möglichkeit den Charakter eines liebenswürdigen Scherzes gab. Ganja war der einzige, der nichts trank. Aus den sonderbaren, mitunter sehr scharfen und hastigen Ausfällen Nastasja Filippownas, die sich ebenfalls Wein geben ließ und erklärte, sie werde an diesem Abend drei große Gläser voll trinken, und aus ihrem hysterischen, grundlosen Lachen, das dann plötzlich mit Schweigsamkeit und sogar mit düsterer Nachdenklichkeit wechselte, aus alledem war schwer klug zu werden. Manche vermuteten, sie hätte Fieber; schließlich merkte man, daß sie anscheinend auf etwas wartete, oft nach der Uhr sah und ungeduldig und zerstreut wurde.

„Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?“ fragte die gewandte Dame.

„Nicht ein bißchen, sondern recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt“, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien.

Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung.

„Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?“ sagte Tozkij, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah.

„Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich notwendig“, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam. Und da fast alle Gäste schon wußten; daß an diesem Abend eine sehr bedeutsame Entscheidung fallen sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozkij wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen.

„Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten“, sagte die gewandte Dame.

„Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel“, erklärte Ferdyschtschenko. „Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.“

„Was ist das für ein Spiel?“ fragte die gewandte Dame.

„Wir waren einmal in einer Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse, das war die Hauptsache, jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.“

„Eine sonderbare Idee“, sagte der General.

„Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.“

„Ein komischer Gedanke“, meinte Tozkij, „der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Prahlsucht dahinter.“

„Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanassij Iwanowitsch.“

„Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel muß man ja weinen und nicht lachen“, bemerkte die gewandte Dame.

„Eine ganz unmögliche, absurde Sache!“ rief Ptizyn.

„Und ist es gelungen?“ fragte Nastasja Filippowna.

„Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt in seiner Art.“

„Nein, wirklich, das wäre schön!“ bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. „Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen … etwas in dieser Art … selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist … jeder muß freie Hand haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.“

„Ja, es ist ein genialer Gedanke!“ fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. „Die Damen sind übrigens dispensiert, die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen, aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut, der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen — das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.“

Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter, die anderen lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wenn auch nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand, sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozkij. Ihre dunklen Augen blitzten, auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefiel ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko.

„Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?“ bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern.

„Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!“ erwiderte Ferdyschtschenko. „Ei, ei, Sie junger Mann!“

„Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll“, warf die gewandte Dame ein.

„Die Damen sind von der Pflicht zu erzählen dispensiert“, wiederholte Ferdyschtschenko, „aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu bereit finden, so wird das mit dankbarer Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.“

„Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?“ fragte Ganja. „Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.“

„Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften“, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, „denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!“

„Aber ist's möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?“ fragte Tozkij würdevoll.

„Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!“ versetzte Nastasja Filippowna lächelnd.

„Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?“ fuhr Tozkij, der immer unruhiger wurde, fort. „Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen; Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.“

„Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe, das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!“

„Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, einer Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.“

„Aber was sind Sie für ein feinfühliger Mensch, Afanassij Iwanowitsch! Sie setzen mich geradezu in Erstaunen!“ rief Ferdyschtschenko. „Denken Sie nur, meine Herrschaften, durch seine Bemerkung, ich hätte von meinem Diebstahl nicht so erzählen können, daß es glaubhaft geklungen habe, deutet Afanassij Iwanowitsch auf die feinste Weise an, daß ich auch tatsächlich nicht imstande gewesen sei, den Diebstahl auszuführen (denn das so geradeheraus zu sagen, wäre unpassend), obwohl er vielleicht im stillen ganz davon überzeugt ist, daß Ferdyschtschenko es sehr wohl habe fertigbringen können zu stehlen! Aber zur Sache, meine Herren, zur Sache, die Lose sind eingesammelt, und auch Sie, Afanassij Iwanowitsch, haben das Ihrige hineingelegt, also schließt sich niemand aus. Nun nehmen Sie die Ziehung vor, Fürst!“

Der Fürst fuhr schweigend mit der Hand in den Hut und zog die Lose heraus, als erstes das Ferdyschtschenkos, als zweites das Ptizyns, als drittes das des Generals, als viertes das Afanassij Iwanowitschs, als fünftes das seinige, als sechstes das Ganjas und so weiter. Die Damen hatten keine Lose hineingelegt.

„O Gott, welches Unglück!“ rief Ferdyschtschenko. „Und ich hatte gedacht, zuerst würde der Fürst drankommen und dann der General! Aber Gott sei Dank, wenigstens kommt Iwan Petrowitsch nach mir, da werde ich für meine Offenherzigkeit entschädigt werden. Nun, meine Herren, ich bin natürlich verpflichtet, ein gutes Beispiel zu geben, aber am meisten bedaure ich in diesem Augenblick, daß ich ein so unbedeutender Mensch bin und nichts Bemerkenswertes an mir habe; selbst meine dienstliche Rangstellung ist eine ganz niedrige; was für ein Interesse kann es denn erwecken, daß Ferdyschtschenko eine häßliche Handlung begangen hat? Und welches ist denn meine schlechteste Handlung? Da liegt ein embarras de richesse1 vor. Soll ich etwa wieder von demselben Diebstahl erzählen, um Afanassij Iwanowitsch davon zu überzeugen, daß man stehlen kann, ohne eigentlich ein Dieb zu sein? …“

„Sie überzeugen mich auch davon, Herr Ferdyschtschenko, daß man tatsächlich ein bis zur Berauschtheit gehendes Vergnügen empfinden kann, wenn man von seinen unsauberen Handlungen erzählt, obwohl man nicht danach gefragt ist … Übrigens aber … Verzeihen Sie, Herr Ferdyschtschenko!“

„Fangen Sie an, Ferdyschtschenko! Sie schwatzen schrecklich viel unnützes Zeug und werden nie zu Ende kommen!“ befahl Nastasja Filippowna gereizt und ungeduldig.

Alle bemerkten, daß sie nach ihrem anfallartigen Lachen von vorhin plötzlich geradezu düster, mürrisch und reizbar geworden war, aber nichtsdestoweniger bestand sie hartnäckig und despotisch darauf, daß ihrer absurden Laune gehorcht werde. Afanassij Iwanowitsch litt furchtbare Qualen. Er war auch auf Iwan Fjodorowitsch wütend, der, als wäre nichts geschehen, beim Champagner saß und vielleicht sogar etwas zu erzählen beabsichtigte, wenn er an die Reihe kam.


  1. Qual der Wahl