xv
Das Stubenmädchen Katja kam ganz erschrocken herein.
„Da geht etwas ganz Tolles vor, Nastasja Filippowna, es sind etwa zehn Menschen eingedrungen, ganz betrunken, sie wollen vorgelassen werden, sie sagen, es sei Rogoshin, und Sie wüßten schon Bescheid.“
„Es ist richtig, Katja, laß sie alle sogleich herein!“
„Wirklich … alle, Nastasja Filippowna? Die Leute sehen gar zu schlimm aus. Es ist schauderhaft!“
„Laß sie nur alle herein, Katja, alle, fürchte dich nicht, alle ohne Ausnahme; sonst kommen sie ohne deine Erlaubnis herein. Da, was sie für einen Lärm machen, gerade wie schon einmal heute! Meine Herrschaften“, wandte sie sich an die Gäste, „Sie verübeln es mir vielleicht, daß ich in Ihrer Gegenwart eine solche Gesellschaft empfange? Ich bedaure es sehr und bitte um Verzeihung, aber es muß sein, und es wäre mir auch sehr erwünscht, wenn Sie alle einwilligten, bei dieser bevorstehenden Entscheidung meine Zeugen zu sein. Indessen, ganz wie es Ihnen beliebt …“
Die Gäste kamen aus dem Staunen nicht heraus, sie flüsterten und wechselten Blicke miteinander, aber es war ganz klar, daß dies alles vorher überlegt und vorher arrangiert war und daß Nastasja Filippowna, obgleich sie wirklich den Verstand verloren haben mochte, sich jetzt von ihrem Vorhaben nicht würde abbringen lassen. Alle waren außerordentlich gespannt. Überdies hatte niemand etwas Besonderes zu fürchten. Damen waren nur zwei anwesend: Darja Alexejewna, die gewandte Dame, die schon mancherlei in der Welt gesehen hatte und nicht leicht in Verlegenheit zu bringen war, und die schöne, aber schweigsame Unbekannte. Aber die schweigsame Unbekannte konnte fast nichts verstehen: sie war eine zugereiste Deutsche und konnte nicht Russisch; außerdem war sie, wie es schien, ebenso dumm, wie sie schön war. Sie war erst vor kurzem angekommen, aber es war schon üblich geworden, sie zu gewissen Abendgesellschaften einzuladen, bei denen sie dann in reichster Toilette und wie zu einer Ausstellung frisiert erschien und wie ein entzückendes Bild zur Verschönerung des Abends ihren Platz erhielt, gerade wie manche Leute sich für ihre Gesellschaften für einen Abend von Bekannten ein Gemälde, eine Vase, eine Statue oder einen Ofenschirm leihen. Was jedoch die Männer anlangte, so war Ptizyn mit Rogoshin befreundet; Ferdyschtschenko fühlte sich wie ein Fisch im Wasser; Ganjetschka konnte immer noch nicht recht zu sich kommen, indes empfand er dunkel ein unüberwindliches, glühendes Verlangen, bis zum Ende an seinem Schandpfahl auszuhalten; der alte Lehrer, der von den Vorgängen nur wenig verstand, weinte beinah und zitterte buchstäblich vor Furcht, da er bei den andern und Nastasja Filippowna, die er wie seine Enkelin vergötterte, eine so ungewöhnliche Aufregung wahrnahm; aber er wäre eher gestorben, als daß er sie in einem solchen Augenblick verlassen hätte. Was Afanassij Iwanowitsch betrifft, so durfte er sich allerdings bei solchen Affären nicht kompromittieren, aber er war an der Angelegenheit zu sehr interessiert, obwohl sie eine so sinnlose Wendung genommen hatte; auch hatte Nastasja Filippowna ein paar derartige, ihn betreffende Bemerkungen fallenlassen, daß er unmöglich gehen konnte, bevor die Sache vollständig aufgeklärt war. Er entschied sich dafür, bis zu Ende sitzen zu bleiben, nunmehr gänzlich zu schweigen und nur den Beobachter zu spielen, ein Verhalten, das auch seine Würde sicherlich verlangte. Nur für General Jepantschin, der schon soeben durch die so ungenierte, lächerliche Rückgabe seines Geschenkes gekränkt worden war, bestand die Möglichkeit, daß er durch alle diese seltsamen Exzentrizitäten oder auch durch Rogoshins Erscheinen noch weiter beleidigt wurde; auch hatte ein Mann wie er ohnehin schon eine zu weit gehende Herablassung gezeigt, indem er sich entschlossen hatte, sich neben einen Ptizyn und einen Ferdyschtschenko zu setzen, aber die Wirkung der Leidenschaft mußte doch endlich aufgehoben und überwogen werden durch das Gefühl der Pflicht, durch das Bewußtsein seines Ranges und seiner gesellschaftlichen Stellung sowie überhaupt durch die Selbstachtung, so daß ein Rogoshin mit seiner Gesellschaft jedenfalls in Gegenwart Seiner Exzellenz ein Ding der Unmöglichkeit war.
„Ach, General“, unterbrach ihn Nastasja Filippowna sogleich, als er sich mit einer Erklärung dieser Art an sie wandte, „das hatte ich im Augenblick vergessen! Aber seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bedenken vorhergesehen habe. Wenn es Ihnen so peinlich ist, bestehe ich nicht darauf, daß Sie hierbleiben, und will Sie nicht zurückhalten, obwohl es mir höchst erwünscht sein würde, gerade Sie jetzt bei mir zu sehen. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Bekanntschaft und für die schmeichelhafte Aufmerksamkeit, die Sie mir erwiesen haben, aber wenn Sie fürchten …“
„Erlauben Sie, Nastasja Filippowna“, rief der General in einem Anfall von ritterlichem Edelmut, „zu wem reden Sie so? Schon allein aus Ergebenheit werde ich jetzt bei Ihnen bleiben, und wenn irgendwelche Gefahr bestehen sollte … Außerdem muß ich bekennen, daß ich außerordentlich neugierig bin. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, daß diese Menschen möglicherweise die Teppiche verderben und etwas zerbrechen werden … Meiner Ansicht nach sollten Sie sie überhaupt nicht hereinlassen, Nastasja Filippowna!“
„Da ist Rogoshin selbst!“ rief Ferdyschtschenko.
„Wie denken Sie darüber, Afanassij Iwanowitsch?“ flüsterte diesem der General schnell zu. „Ob sie nicht den Verstand verloren hat? Das heißt, nicht figürlich gesagt, sondern im eigentlichen medizinischen Sinne, wie?“
„Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß sie von jeher dazu neigte“, flüsterte Afanassij Iwanowitsch schlau zurück.
„Und dazu nun noch das Fieber …“
Rogoshins Gefolge wies fast denselben Bestand auf wie am Tage, hinzugekommen waren nur ein heruntergekommener alter Mann, der seinerzeit Redakteur eines bissigen Skandalblättchens gewesen war und von dem man sich das Geschichtchen erzählte, er habe seine in Gold gefaßten falschen Zähne versetzt und vertrunken, sowie ein verabschiedeter Leutnant, nach seinem Handwerk und seiner Bestimmung ein entschiedener Rivale und Konkurrent des schon am Tage anwesenden Herrn mit den Fäusten; niemand von Rogoshins übrigen Leuten kannte ihn, er war auf der Sonnenseite des Newskij Prospekts aufgelesen worden, wo er die Passanten anhielt und im Marlinskijschen Stil1 um eine Unterstützung bat, mit der schlauen Bemerkung, er selbst habe seinerzeit jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben. Die beiden Konkurrenten nahmen von vornherein eine feindliche Stellung gegeneinander ein. Der schon eher aufgetretene Herr mit den Fäusten hielt sich durch die Aufnahme des „Bittstellers“ in die Gesellschaft geradezu für beleidigt, und da er von Natur schweigsam war, brummte er nur manchmal wie ein Bär und blickte mit tiefster Verachtung auf die Schmeicheleien und Scherze, mit denen sich der „Bittsteller“, der sich als eine weltmännische, diplomatische Persönlichkeit erwies, an ihn heranmachte. Seinem Äußern nach ließ der Leutnant erwarten, daß er „bei der Arbeit“ mehr durch Geschicklichkeit und Gewandtheit als durch Kraft wirken werde, auch war er von kleinerer Statur als der Herr mit den Fäusten. Taktvoll, ohne in einen offenen Streit einzutreten, aber sehr ruhmredig, hatte er schon mehrmals auf die Vorzüge des englischen Boxens hingewiesen und sich als ein entschiedener Anhänger westeuropäischen Wesens zu erkennen gegeben. Der Herr mit den Fäusten hatte bei dem Wort „Boxen“ nur geringschätzig und beleidigend gelächelt und seinerseits, ohne seinen Rivalen eines offenen Streites zu würdigen, zuweilen schweigend und anscheinend unbewußt ein durchaus nationales Naturprodukt gezeigt oder, richtiger gesagt, zum Anschauen vorgestreckt: eine gewaltige, sehnige, knorrige, mit einer Art von rötlichem Flaum bewachsene Faust, und es war allen klargeworden, daß, wenn dieses echt nationale Naturprodukt, ohne danebenzugehen, auf ein Lebewesen niederfiel, von diesem tatsächlich nur ein nasser Fleck übrigblieb.
Im vollen Wortsinn „fertig“ war ebenso wie am Tage auch diesmal keiner von ihnen; das war ein Erfolg der persönlichen Bemühungen Rogoshins, dem den ganzen Tag über sein Besuch bei Nastasja Filippowna als Ziel vor Augen geschwebt hatte. Er selbst war wieder fast ganz nüchtern geworden, aber dafür war er beinahe betäubt von all den Eindrücken, die ihm dieser seltsame, mit keinem seiner früheren Lebenstage vergleichbare Tag gebracht hatte. Nur eine Absicht hatte er jede Minute, jede Sekunde im Auge gehabt, im Gedächtnis behalten, im Herzen gehegt, und um dieses Eine auszuführen, hatte er die ganze Zeit von fünf Uhr nachmittags bis elf Uhr abends in größter Aufregung und Unruhe damit verbracht, mit Leuten wie Biskup und Kinder zu verhandeln, die gleichfalls fast den Verstand verloren hatten und in seinem Interesse wie die Besessenen umherrannten. Aber die hunderttausend Rubel in bar, auf die Nastasja Filippowna beiläufig, spöttisch und völlig unklar angespielt hatte, waren doch zusammengebracht worden, allerdings zu Prozenten, von denen sogar Biskup selbst schamhafterweise mit Kinder nicht laut, sondern nur flüsternd sprach.
Rogoshin schritt wie am Tage auch jetzt an der Spitze aller einher, die übrigen gingen hinter ihm, zwar im vollen Bewußtsein ihrer Vorzüge, aber doch einigermaßen ängstlich. Hauptsächlich fürchteten sie sich, Gott weiß weshalb, vor Nastasja Filippowna. Manche von ihnen dachten sogar, man werde sie alle unverzüglich die Treppe hinunterwerfen. Zu denen, die solche Befürchtungen hegten, gehörte unter andern der Stutzer und Herzenbezwinger Saljoshew. Die andern aber, und ganz besonders der Herr mit den Fäusten, hegten, wenn sie es auch nicht laut aussprachen, doch in ihrem Herzen eine tiefe Verachtung, ja einen Haß gegen Nastasja Filippowna und gingen zu ihr, als ob sie gegen eine zu belagernde Stadt vorrückten. Aber die prachtvolle Einrichtung der ersten beiden Zimmer, die kostbaren Gegenstände, wie sie dergleichen nie gesehen hatten, ja nicht einmal vom Hörensagen kannten, die auserlesenen Möbel, die große Venusstatue, alles das rief bei ihnen eine gewisse Ehrfurcht, ja beinah Angst hervor. Das konnte sie aber natürlich alle nicht daran hindern, sich allmählich mit frecher Neugier trotz ihrer Angst hinter Rogoshin her in den Salon zu drängen; aber als der Herr mit den Fäusten, der „Bittsteller“ und einige andere den General Jepantschin unter den Gästen bemerkten, wurden sie im ersten Augenblick dermaßen mutlos, daß sie sogar anfingen, sich sachte nach dem andern Zimmer zurückzuziehen. Nur Lebedew, der am meisten Mut und Selbstvertrauen besaß, ging beinah an Rogoshins Seite, denn er wußte, was es bedeutet, ein Kapital von einer Million und vierhunderttausend Rubeln im Besitz und hunderttausend augenblicklich in Händen zu haben. Es muß übrigens hervorgehoben werden, daß sie alle, sogar der sachverständige Lebedew nicht ausgenommen, sich über die Grenzen ihrer Macht einigermaßen im unklaren waren und nicht wußten, ob ihnen jetzt tatsächlich alles erlaubt sei oder nicht. Lebedew hätte in manchen Augenblicken darauf schwören mögen, daß sie jetzt alles wagen dürften, aber in andern empfand er ein unruhiges Bedürfnis, sich im stillen für alle Fälle an einige Paragraphen der Gesetzsammlung, und namentlich an solche ermutigenden und beruhigenden Inhalts, zu erinnern.
Auf Rogoshin machte Nastasja Filippownas Salon den entgegengesetzten Eindruck wie auf alle seine Gefährten. Kaum hatte er die Portiere zurückgeschlagen und Nastasja Filippowna erblickt, als alles übrige für ihn zu existieren aufhörte, gerade wie am Morgen, sogar in noch höherem Grade als vorhin. Er wurde blaß und blieb einen Augenblick stehen; man konnte erraten, daß sein Herz furchtbar klopfte. Schüchtern und fassungslos sah er einige Sekunden lang Nastasja Filippowna mit unverwandten Blicken an. Auf einmal ging er, als wäre ihm alle Denkkraft abhanden gekommen, beinah schwankend an den Tisch heran; unterwegs stieß er an Ptizyns Stuhl und trat mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Spitzenbesatz des prachtvollen himmelblauen Kleides der schweigsamen, schönen Deutschen, aber er entschuldigte sich nicht und hatte es gar nicht bemerkt. Als er zum Tisch gelangt war, legte er einen sonderbaren Gegenstand darauf hin, den er beim Betreten des Salons in beiden Händen vor sich gehalten hatte. Es war ein großes Päckchen, drei Werschok in der Höhe und vier Werschok in der Länge, dicht und fest in eine Nummer der Börsennachrichten eingeschlagen und straff von allen Seiten und zweimal über Kreuz mit einem Bindfaden zusammengebunden, von der Art, wie man ihn zum Umschnüren von Zuckerhüten gebraucht. Dann stand er, ohne ein Wort zu sagen, mit herabhängenden Armen da, als erwartete er sein Urteil. Sein Anzug war ganz derselbe wie am Tage, nur hatte er jetzt ein ganz neues seidenes Tuch um den Hals, hellgrün mit Rot, ferner trug er eine große Brillantnadel, die einen Käfer darstellte, und an dem schmutzigen Ringfinger der rechten Hand einen massiven Brillantring. Lebedew ging nicht bis an den Tisch heran, sondern blieb in einer Entfernung von drei oder vier Schritten stehen; die übrigen, wie schon gesagt, sammelten sich allmählich im Salon. Katja und Pascha, die beiden Stubenmädchen Nastasja Filippownas, waren auch herbeigelaufen, um hinter den ein wenig aufgehobenen Portieren hervor mit tiefem Erstaunen und großer Angst zuzusehen.
„Was ist das?“ fragte Nastasja Filippowna, indem sie ihre Blicke unverwandt und neugierig auf Rogoshin richtete und mit den Augen auf das Päckchen hinwies.
„Hunderttausend Rubel“, antwortete dieser fast flüsternd.
„Ah, er hat also Wort gehalten! Na, so ein Mensch. Setzen Sie sich bitte, da, auf diesen Stuhl; ich werde Ihnen nachher etwas sagen. Wen haben Sie da bei sich? Das ist wohl die ganze Gesellschaft von vorhin? Nun, sie sollen hereinkommen und Platz nehmen, dort auf dem Sofa ist noch Platz, und da ist noch ein anderes Sofa. Da sind zwei Lehnsessel … Was haben die Leute nur? Sie wollen wohl nicht?“
Manche waren in der Tat ganz verlegen geworden, zogen sich zurück und setzten sich im Nebenzimmer hin, um dort zu warten, manche aber blieben da und nahmen auf die Einladung hin Platz, aber möglichst fern vom Tisch und möglichst in den Ecken; die einen wünschten immer noch gewissermaßen zu verschwinden, die andern aber gewannen, je ferner sie saßen, um so mehr Mut, und zwar mit überraschender Geschwindigkeit. Rogoshin setzte sich ebenfalls auf den ihm angewiesenen Sessel, blieb aber nicht lange sitzen, er stand bald wieder auf und setzte sich dann nicht mehr hin. Allmählich begann er die Gäste zu unterscheiden und deutlicher zu sehen. Als er Ganja erblickte, lächelte er boshaft und flüsterte vor sich hin: „Sieh mal an!“ Den General und Afanassij Iwanowitsch betrachtete er ohne Verlegenheit und sogar ohne besonderes Interesse. Aber als er neben Nastasja Filippowna den Fürsten bemerkte, vermochte er längere Zeit nicht seinen Blick von ihm loszureißen; er war äußerst erstaunt und anscheinend nicht imstande, sich dieses Zusammentreffen zu erklären. Man konnte vermuten, daß er sich zeitweilig in einem Zustande wirklicher Geistesverwirrung befand. Abgesehen von allen Erschütterungen, die ihm dieser Tag gebracht hatte, hatte er die ganze vorhergehende Nacht im Zuge verbracht und schon seit fast achtundvierzig Stunden nicht geschlafen.
„Das sind hunderttausend Rubel, meine Herrschaften“, sagte Nastasja Filippowna, indem sie sich mit fieberhafter Ungeduld laut an alle Anwesenden wandte, „hier in diesem schmutzigen Päckchen. Heute am Tage schrie er wie ein Wahnsinniger, er werde mir am Abend hunderttausend Rubel bringen, und da habe ich denn immer auf ihn gewartet. Er hat mir nämlich ein Angebot gemacht: er fing mit achtzehntausend an, dann sprang er plötzlich auf vierzigtausend, und nun sind hier hunderttausend. Er hat Wort gehalten! O weh, wie blaß er aussieht! … Das passierte heute alles in Ganjas Wohnung, ich war hingekommen, um seine Mama zu besuchen, zu meiner künftigen Familie war ich gekommen, und da schrie mich seine Schwester an: ‚Schafft denn niemand dieses schamlose Weib hinaus?‘ und ihrem Bruder Ganja spie sie ins Gesicht. Ein energisches Mädchen!“
„Nastasja Filippowna!“ rief der General vorwurfsvoll.
Er begann die Sache ein wenig zu verstehen, wenigstens auf seine Art.
„Was haben Sie denn, General? Das ist wohl unschicklich, nicht wahr? Wenn ich im Französischen Theater in meiner Loge wie eine unberührbare Tugend aus der Beletage gesessen und alle, die in diesen fünf Jahren hinter mir her waren, menschenscheu gemieden und mir das Aussehen einer stolzen Unschuld gegeben habe, so hat mich zu diesem Benehmen nur meine Dummheit gebracht! Da ist nun in Ihrer Gegenwart dieser Mensch nach den fünf Jahren der Unschuld hergekommen und hat hunderttausend auf den Tisch gelegt, und gewiß stehen schon die Troikas dieser Leute da und warten auf mich. Auf hunderttausend Rubel hat er mich taxiert. Ganja, ich sehe, du bist auf mich immer noch böse? Hast du mich denn wirklich in deine Familie einführen wollen? Mich, Rogoshins Eigentum! Was hat der Fürst vorhin gesagt?“
„Ich habe nicht gesagt, daß Sie Rogoshins Eigentum seien, das sind Sie auch nicht!“ sagte der Fürst mit zitternder Stimme.
„Nastasja Filippowna, laß es genug sein, Mütterchen, laß es genug sein, Täubchen!“ mischte sich Darja Alexejewna ein, die sich nicht länger beherrschen konnte. „Wenn sie dir alle so zuwider geworden sind, was brauchst du dich denn um sie zu kümmern? Du wirst doch nicht etwa mit diesem Menschen davongehen wollen, und wenn er dir auch hunderttausend Rubel bietet! Es ist ja richtig: hunderttausend Rubel, das ist schon etwas! Nimm doch einfach die hunderttausend Rubel und jage ihn weg, so muß man es mit ihnen machen. Ach, ich würde sie an deiner Stelle alle … was soll man sich mit denen aufhalten!“
Darja Alexejewna war ordentlich zornig geworden. Sie war eine gute und sehr empfindsame Frau.
„Sei nicht ärgerlich, Darja Alexejewna“, erwiderte Nastasja Filippowna lächelnd, „ich habe es ihm ja nicht im Zorn gesagt. Habe ich ihm denn einen Vorwurf gemacht? Es ist mir auch ganz unbegreiflich, wie ich habe auf den dummen Gedanken kommen können, in eine ehrenhafte Familie hineinzuheiraten. Ich habe seine Mutter gesehen und ihr die Hand geküßt. Und wenn ich dich vorhin verhöhnt habe, Ganja, so habe ich das absichtlich getan, um zum letztenmal zu sehen, wie weit du wohl zu gehen imstande wärest! Nun, du hast mich in Erstaunen versetzt, wahrhaftig! Ich hatte viel erwartet, aber das denn doch nicht! Konntest du dich denn wirklich dazu verstehen, mich zur Frau zu nehmen, obwohl du wußtest, daß der hier mir einen solchen Perlenschmuck ganz kurz vor deiner Hochzeit schenkt und ich ihn annehme? Und Rogoshin? Er hat ja in deiner Wohnung, in Gegenwart deiner Mutter und deiner Schwester, mir ein Angebot gemacht, und du bist doch trotz alledem hierhergekommen, um dich um meine Hand zu bewerben, und hättest beinah deine Schwester mitgebracht! Hat Rogoshin denn wirklich recht gehabt, als er von dir sagte, für drei Rubel würdest du auf allen vieren bis zur Wassilij-Insel kriechen?“
„Er wird hinkriechen“, sagte Rogoshin plötzlich leise, aber im Ton festester Überzeugung.
„Und wenn du noch nahe daran wärest, Hungers zu sterben! Aber du beziehst ja, wie es heißt, ein gutes Gehalt! Und zu alledem, ganz abgesehen von der Schande, wolltest du gar noch eine Frau, die du haßt, in dein Haus führen! (Denn du haßt mich, das weiß ich!) Nein, jetzt glaube ich, daß so ein Mensch für Geld einen Mord begeht! Es hat ja jetzt alle eine solche Gier erfaßt, es zieht sie so zum Gelde hin, daß sie wie Irrsinnige sind. So einer ist fast noch Kind und geht schon unter die Wucherer! Er bringt es fertig, Seide um ein Rasiermesser zu wickeln, damit es fest steht, und sachte von hinten seinem Freund wie einem Hammel den Hals abzuschneiden, wie ich das unlängst gelesen habe. Was bist du für ein schamloser Mensch! Ich bin ja schamlos, aber du bist noch weit ärger. Von dem Blumenspender dort will ich gar nicht reden …“
„Sind Sie es wirklich, sind Sie es wirklich, Nastasja Filippowna?“ rief der General und schlug in aufrichtigem Schmerz die Hände zusammen. „Sie, die Sie sonst so zartfühlend waren und so taktvoll redeten, und nun auf einmal! Welche Sprache, welche Ausdrücke!“
„Ich bin jetzt betrunken, General“, erwiderte Nastasja Filippowna lachend, „ich will fidel sein! Heute ist mein Tag, mein Fest- und Feiertag, auf den ich schon lange gewartet habe. Darja Alexejewna, siehst du ihn, diesen Blumenschenker, diesen monsieur aux camélias? Da sitzt er und lacht uns aus …“
„Ich lache nicht, Nastasja Filippowna; ich höre nur mit der größten Aufmerksamkeit zu“, entgegnete Tozkij mit würdiger Ruhe.
„Warum habe ich ihn eigentlich fünf volle Jahre lang gequält und nicht von mir loskommen lassen? War er das denn wert? Er kann eben nicht anders sein, als er ist … Er wird noch behaupten, daß ich in seiner Schuld stehe: er hat mich ja erziehen lassen und mich wie eine Gräfin unterhalten, was ist da für Geld draufgegangen, und dann hat er schon dort einen anständigen Mann für mich ausgesucht und nun hier diesen Ganja. Und solltest du es glauben: ich habe diese fünf Jahre nicht mit ihm zusammen gelebt, aber das Geld von ihm angenommen und im Rechte zu sein gemeint! Ich war ja ganz wirr im Kopf geworden! Ich handelte nach deinem Grundsatz: ‚Nimm die hunderttausend Rubel und jag den Geber weg, wenn er dir zuwider ist!‘ Daß er mir zuwider ist, stimmt … Ich hätte mich auch schon längst verheiraten können, und nicht nur mit Ganja, aber auch das war mir schon zuwider. Und warum habe ich meine fünf Jahre in dieser boshaften Stimmung verloren! Aber ob du es nun glaubst oder nicht: vor vier Jahren habe ich manchmal daran gedacht, ob ich nicht ganz einfach meinen Afanassij Iwanowitsch heiraten sollte. Dieser Gedanke kam mir damals nur aus Bosheit; was ging mir damals nicht alles durch den Kopf, aber ich hätte ihn dazu bringen können, wirklich! Er selbst hat es mir angeboten, ob du es nun glaubst oder nicht. Er meinte es ja nicht ehrlich, aber er ist gar zu lüstern und kann seine Begierden nicht unterdrücken. Aber dann überlegte ich mir Gott sei Dank: ist er es denn wert, daß ich um seinetwillen eine solche Schlechtigkeit begehe? Und er wurde mir damals plötzlich so zuwider, daß ich seitdem, auch wenn er mir selbst seine Hand antrüge, sie ablehnen würde. Und ganze fünf Jahre habe ich in dieser Art großgetan! Nein, das beste ist schon, ich gehe auf die Straße, wo ich ja auch hingehöre! Entweder will ich mit Rogoshin lustig leben oder gleich morgen Wäscherin werden! Denn Eigentum habe ich ja keines; ich werfe alles hin, das letzte Läppchen lasse ich hier, und wenn ich gar nichts mehr habe, wer nimmt mich dann zur Frau? Frag mal Ganja hier, ob er mich nehmen würde! Nicht mal Ferdyschtschenko würde mich nehmen! …“
„Ferdyschtschenko würde Sie vielleicht nicht nehmen, Nastasja Filippowna, ich bin ein offenherziger Mensch“, unterbrach sie Ferdyschtschenko. „Aber dafür würde der Fürst Sie nehmen! Sie sitzen da und beklagen sich, sehen Sie doch einmal den Fürsten an! Ich beobachte ihn schon lange …“
Nastasja Filippowna wandte sich neugierig zum Fürsten hin.
„Ist das wahr?“ fragte sie.
„Ja, es ist wahr“, flüsterte der Fürst. „Sie nehmen mich so, wie ich bin, ohne alles?“
„Ja, das tue ich, Nastasja Filippowna …“
„Da haben wir ja eine neue Tollheit!“ murmelte der General. „Das war zu erwarten!“
Der Fürst schaute Nastasja Filippowna, die fortfuhr, ihn anzusehen, traurig, ernst und durchdringend ins Gesicht.
„Da hat sich also noch einer gefunden!“ sagte sie dann, indem sie sich wieder zu Darja Alexejewna wandte. „Und er tut es rein aus gutem Herzen, das weiß ich. Ich habe einen Wohltäter gefunden! Übrigens haben die Leute vielleicht recht, wenn sie von ihm sagen, daß er … hm, na ja! Wovon wirst du denn leben, wenn du schon so verliebt bist, daß du, ein Fürst, Rogoshins Geliebte nehmen willst?“
„Ich nehme Sie als ehrbare Frau, Nastasja Filippowna, und nicht als Rogoshins Geliebte“, antwortete der Fürst.
„Ich bin also eine ehrbare Frau?“
„Ja.“
„Nun, das hast du wohl … aus Romanen! Das sind altmodische Torheiten, liebster Fürst, aber jetzt ist die Welt klüger geworden, und all das ist jetzt Unsinn! Und wie wolltest du denn heiraten? Du brauchst ja selbst noch eine Kinderfrau!“
Der Fürst stand auf und sagte mit zitternder, schüchterner Stimme, aber zugleich mit der Miene tiefster Überzeugung: „Ich weiß nichts von der Welt, Nastasja Filippowna, ich habe nichts von der Welt gesehen; darin haben Sie recht, aber ich … ich bin der Ansicht, daß Sie mir eine Ehre erweisen und nicht ich Ihnen. Ich bin ein Nichts, aber Sie haben gelitten und sind aus einer solchen Hölle rein hervorgegangen, und das ist etwas Großes. Warum schämen Sie sich also und wollen zu Rogoshin gehen? Das ist Fieber … Sie haben Herrn Tozkij die fünfundsiebzigtausend Rubel zurückgegeben und sagen, daß Sie auf alles, was hier ist, verzichten werden; dessen wäre keiner der hier Anwesenden fähig. Ich … ich liebe Sie, Nastasja Filippowna. Ich sterbe für Sie. Ich werde nicht dulden, daß jemand über Sie ein schlechtes Wort sagt. Wenn wir arm sein werden, so werde ich arbeiten, Nastasja Filippowna …“
Bei den letzten Worten hörte man Ferdyschtschenko und Lebedew kichern, und selbst der General räusperte sich sehr mißvergnügt. Ptizyn und Tozkij konnten sich nicht enthalten zu lächeln, beherrschten sich aber noch. Die übrigen rissen geradezu den Mund auf vor Verwunderung.
„ …Aber vielleicht werden wir nicht arm sein, sondern sehr reich, Nastasja Filippowna“, fuhr der Fürst in demselben bescheidenen Ton fort. „Ich weiß es übrigens nicht bestimmt und bedaure, daß ich den ganzen Tag über bis jetzt darüber nichts habe erfahren können, aber ich habe in der Schweiz einen Brief aus Moskau von einem Herrn Salaskin erhalten, und er teilt mir mit, ich könne eine sehr große Erbschaft antreten. Hier ist der Brief …“
Der Fürst zog wirklich einen Brief aus der Tasche.
„Redet er denn irre?“ murmelte der General. „Es ist ja hier das reine Narrenhaus!“
Für einen Augenblick trat Stillschweigen ein.
„Sie sagten ja wohl, Fürst, der Brief an Sie sei von Salaskin?“ fragte Ptizyn. „Das ist ein in seinen Kreisen sehr bekannter Mann, ein bekannter Rechtsanwalt, und wenn er Ihnen das wirklich mitgeteilt hat, so können Sie sich vollständig darauf verlassen. Zum Glück kenne ich seine Handschrift, da ich erst kürzlich mit ihm geschäftlich zu tun hatte … Wenn Sie mir den Brief zur Einsicht geben wollten, so könnte ich Ihnen vielleicht etwas darüber sagen.“
Mit zitternder Hand reichte ihm der Fürst schweigend den Brief hin.
„Ja, was hat denn das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?“ rief der General erstaunt und blickte alle wie ein Halbirrer an. „Hat er wirklich eine Erbschaft gemacht?“
Alle richteten ihre Blicke auf Ptizyn, der den Brief las. Die allgemeine Neugier hatte einen neuen und außerordentlichen Anstoß erhalten. Ferdyschtschenko war außerstande, auf seinem Platze sitzen zu bleiben; Rogoshin machte ein verständnisloses, furchtbar beunruhigtes Gesicht und sah abwechselnd nach dem Fürsten und nach Ptizyn hin. Darja Alexejewna saß in gespannter Erwartung wie auf Nadeln. Selbst Lebedew vermochte sich nicht zu beherrschen, er kam aus seiner Ecke hervor und blickte, sich tief hinabbeugend, über Ptizyns Schulter in den Brief, mit der Miene eines Menschen, der darauf gefaßt ist, im nächsten Augenblick eine Ohrfeige zu erhalten.
- Marlinski ist das Pseudonym des Schriftstellers Alexander Alexandrowitsch Bestuschew, 1797-1837. (A.d.Ü.) Zunächst revolutionärer Schriftsteller, schrieb später in manieriertem und übertrieben pathetischem Stil.↩