Zum Hauptinhalt springen

Christentum

Christentum. Das Christentum wird von Kant symbolisch-ethisch aufgefaßt. „Ich unterscheide die Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben, und, um jene rein herauszubekommen, suche ich zuvörderst die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamentischen Satzungen herauszuziehen.“ Wenn die „Lehre des guten Lebenswandels und der Reinigkeit der Gesinnungen im Glauben“ einmal genug ausgebreitet ist, so daß sie sich in der Welt erhalten kann, „so muß das Gerüste wegfallen, wenn schon der Bau dasteht“. Die Hauptsache ist der „moralische Glaube“, d. h. „das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hülfe, in Ansehung alles Guten, was, bei unsern redlichsten Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist“. Dann bedarf es nicht der Kulthandlungen, in welchen stets der „Religionswahn“ bestanden hat, An Lavater, 28. April 1775. „Das Wesentlichste und Vortrefflichste von der Lehre Christi ist ebendieses: daß er die Summe aller Religion darin setzte, rechtschaffen zu sein aus allen Kräften im Glauben, d. i. einem unbedingten Zutrauen, daß Gott alsdann das übrige, Gute, was nicht in unserer Gewalt ist, ergänzen werde“, An Lavater, nach d. 28. April 1775. Das Evangelium ist der unvergängliche „Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Spekulation vollendende Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf“, An Jung-Stilling, nach d. 1. März 1789.

Die christliche Moral gibt einen Begriff des höchsten Gutes (des „Reichs Gottes“), der der strengen Forderung der Vernunft Genüge tut. Das moralische Gesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fordert Heiligkeit (s. d.) der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit des Menschen immer nur Tugend, d. h. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz, folglich Bewußtsein eines steten Hanges zur Übertretung, wenigstens Unlauterkeit, also „eine mit Demut verbundene Selbstschätzung“ ist. Der Wert einer dem moralischen Gesetze völlig angemessenen Gesinnung ist unendlich. Das moralische Gesetz für sich verheißt noch keine Glückseligkeit. „Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel ... durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen, als eines Reichs Gottes, in welchem Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremden Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht. Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionierte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt.“ Die christliche Moral ist aber „nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie“, weil sie die eigentliche Triebfeder zur Befolgung des Moralgesetzes in die Vorstellung der Pflicht allein setzt, KrV 1. T. 2. B. 2. H. V (II 162 ff.).

„Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist. — Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ’ist in ihm von Ewigkeit her’; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus, er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborener Sohn; ’das Wort (das Werde!), durch welches alle anderen Dinge sind und ohne das nichts existiert, was gemacht ist’ (denn um seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht).“ „Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kralt geben kann. Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man besser sagen: daß jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen sei, daß es die Menschheit angenommen habe.“ „Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit ... können wir uns nun nicht anders denken als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre.“ „Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden“, Rel. 2. St. 1. Abs. a (II 76 f.). „Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst; denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir sollen ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch können.“ Wer hier noch Wunder (s. d.) verlangt, bekennt seinen „moralischen Unglauben“. Die geschichtliche Erfahrung zeigt uns das Auftreten eines göttlich gesinnten Menschen, der „gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen“ und durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen gegeben hat. Wir haben nicht Ursache, „in ihm etwas anderes als einen natürlich gezeugten Menschen anzunehmen“, obwohl dadurch nicht verneint wird, daß er nicht auch ein übernatürlich erzeugter Mensch sein könne, welche Vorstellung aber eher schädlich als heilsam ist; denn ein göttlich gesinnter Mensch kann eher zur Nachahmung anregen als ein über alle menschliche Gebrechlichkeit erhabenes Wesen. Doch konnte dieser „göttlich gesinnte, aber ganz eigentlich menschliche Lehrer“ von sich mit Wahrheit so reden, „als ob das Ideal des Guten in ihm leibhaftig (in Lehre und Wandel) dargestellt würde“, nämlich durch seine Gesinnung, die er anderen sichtbar macht. „Eine solche Gesinnung, mit allen um des Weltbesten willen übernommenen Leiden in dem Ideale der Menschheit gedacht, ist nun für alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Welten vor der obersten Gerechtigkeit vollgültig, wenn der Mensch die seinige derselben, wie er es tun soll, ähnlich macht“, ibid. b (IV 68 ff.). Eine solche Annäherung ist nur als „ein kontinuierlicher Fortschritt von mangelhaftem Guten zum Besseren ins Unendliche“ zu denken (s. Böse); diesen Fortschritt können wir wegen der Gesinnung des Menschen (die „übersinnlich“ ist) von einem göttlichen „Herzenskündiger in seiner reinen intellektuellen Anschauung als ein vollendetes Ganzes, auch der Tat (dem Lebenswandel) nach beurteilt“ denken, ibid. c (IV 73 f.). Das bedeutet, „daß die Gesinnung, welche die Stelle der Totalität der ins Unendliche fortgesetzten Annäherung vertritt, nur den von dem Dasein eines Wesens in der Zeit überhaupt unzertrennlichen Mangel, nie ganz vollständig das zu sein, was man zu werden im Begriffe ist, ersetze“, ibid. c 1. Anm. (IV 74). Christus befreite durch sein Beispiel die an ihn glaubenden Menschen von der (geistigen) Herrschaft des Bösen und gab ihnen die moralische Freiheit. Das heißt, „daß es schlechterdings kein Heil für die Menschen gebe als in innigster Aufnehmung echter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung“, ibid. 2. St. 2. Abs. (IV 88 ff.).

Im reinen Christentum ist die Idee der ethischen Religion (s. d.) am meisten verwirklicht. Das Christentum bewirkte, „als eine völlige Verlassung des Judentums, worin es entsprang, auf einem ganz neuen Prinzip gegründet“, eine „gänzliche Revolution in Glaubenslehren“. Es entsprang aus dem „nicht mehr altväterlichen und unvermengten, bloß auf eigene politische Verfassung ... gestellten, sondern aus dem schon durch allmählich darin öffentlich gewordene moralische Lehren mit einem Religionsglauben vermischten“ Judentum, das durch griechische Weisheit beeinflußt war, „plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet“, als Religion des guten Lebenswandels und der reinen Gesinnung mit Hintansetzung des äußeren Kultus, des „Fronglaubens“, zugunsten des „moralischen, seelenbessernden“ Religionsglaubens. In der Folge entartete freilich das Christentum zu einem „despotisch gebietenden Kirchenglauben“, wobei Statuten und Observanzen, die höchstens als Mittel zum Zweck dienen sollen, Eigenwert bekamen (vgl. Kirche). Die Sendung zum reinen moralischen Glauben, zur Verwirklichung der Idee des Reiches (s. d.) Gottes oder der Tugend auf Erden, ist aber im Christentum sichtbar. Der Keim des wahren Religionsglaubens darin braucht sich nur immer mehr weiter zu entwickeln, „um davon eine kontinuierliche Annäherung zu derjenigen alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche zu erwarten, die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“, ibid. 3. St. 2. Abt. (IV 147—152). Der Gehalt an Vernunftreligion im Christentum ist der Hinweis darauf, „daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne“, daß „Heiligkeit“ des Strebens Ziel ist, „daß der natürliche, aber böse Hang des menschlichen Herzens ganz umgekehrt werden solle“, die fröhliche Gemütsstimmung in Befolgung seiner Pflicht; die Forderung: „Tue deine Pflicht aus keiner anderen Triebfeder als der unmittelbaren Wertschätzung derselben, d. i. liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles“, und: „Liebe einen jeden als dich selbst, d. i. befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen“ („Vorschriften der Heiligkeit“, „nicht bloß Tugendgesetze“); Belohnung in einer künftigen Welt für die uneigennützig wollenden Menschen usw., ibid. 4. St. 1. T. 1. Abs. (IV 185 ff.). Der christliche Glaube ist teils als reiner Vernunftglaube („frei angenommener“ Glaube, „fides elicita“), teils als „gebotener Glaube“ („fides imperata“) zu betrachten. Der Kirchenglaube ist kein freier; er ist ein „gehorchender“ Glaube („fides servilis“), wenn mit unbedingtem Glauben an geoffenbarte Sätze angefangen wird. Der „wahre Dienst der Kirche“ unter der Herrschaft des guten Prinzipes ist der, daß „die allgemeine Menschenvernunft in einer natürlichen Religion in der christlichen Glaubenslehre für das oberste gebietende Prinzip anerkannt und gelehrt, die Offenbarungslehre aber ... als bloßes., aber höchst schätzbare« Mittel, um der ersteren Faßlichkeit selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und kultiviert werden“. Der „Afterdienst“ (s. d.) hingegen ist die Umkehrung dieser Ordnung, indem man das bloße Mittel zum Zweck macht, ibid. 2. Abs. (IV 191 f.). Den statutarischen Glauben für wesentlich zum Dienste Gottes zu halten, ist „Religionswahn“, ibid. 4. St. 2. T. am Anf. (IV 196).

Das Christentum hat, „außer der größten Achtung, welche die Heiligkeit seiner Gesetze unwiderstehlich einflößt, noch etwas Liebenswürdiges in sich“. „Das Christentum hat zur Absicht, Liebe zu dem Geschäft der Beobachtung seiner Pflicht überhaupt zu befördern, und bringt sie auch hervor; weil der Stifter desselben nicht in der Qualität eines Befehlshabers, der seinen Gehorsam fordernden Willen, sondern in der eines Menschenfreundes redet, der seinen Mitmenschen ihren eigenen wohlverstandenen Willen (d. i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften) ans Herz legt.“ „Es ist also die liberale Denkungsart — gleichweit entfernt vom Sklavensinn und von Bandenlosigkeit —, wovon das Christentum für seine Lehre Effekt erwartet, durch die es die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen vermag, deren Verstand schon durch die Vorstellung des Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist. Das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks ist das, was ihnen die Gesetzgebung liebenswürdig macht.“ Daß jemand etwas gern tue, läßt sich nicht gebieten. Sollte das Christentum einmal aufhören, liebenswürdig zu sein, indem es „statt seines sanften Geistes, mit gebieterischer Auktorität bewaffnet würde“, so müßte „eine Abneigung und Widergesetzlichkeit gegen dasselbe die herrschende Denkart der Menschen werden“ (Regiment des „Antichrist“ als das verkehrte Ende aller Dinge in moralischer Hinsicht), Ende a. D. (VI 169 ff.); vgl. Liebe.

Die Auslegung des Christentums (der christlichen Offenbarung) „nach den Grundsätzen des reinen Vernunftglaubens“ ist keine „Abwürdigung“ desselben, sondern vielmehr eine „Anerkennung ihres moralisch fruchtbaren Gehalts..., der durch die vermeinte innere vorzügliche Wichtigkeit bloß theoretischer Glaubenssätze verunstaltet werden würde“. Die Bibel ist „das beste vorhandene, zu Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig moralischen Landesreligion auf unabsehbare Zeiten taugliche Leitmittel der öffentlichen Religionsunterweisung“. Ihr heiliger praktischer Inhalt kann „das Innere und Wesentliche der Religion“ immer erhalten und „das manche Zeit hindurch, wie in den dunklen Jahrhunderten des Pfaffentums, entartete Christentum“ in seiner Reinheit immer wiederherstellen, Str. d. Fak. Vorr. (V 4, 46f. u. 50); vgl. Entwurf zu einer Antwort auf den Brief König Friedrich Wilhelms II. v. 1. Okt. 1794. Denn die ... Zusammenstimmung desselben mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben ist die beste und dauerhafteste Lobrede desselben„, ibid. (V 4, 51). Von den verschiedenen Formen der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Einfluß auf die Gemüter zu verschaffen (s. Religion), ist das Christentum, soviel wir wissen, die “schicklichste Form„. Es besteht in der Bibel aus zwei ungleichartigen Stücken, “dem einen, welches den Kanon, dem anderen, was das Organon oder Vehikel der Religion enthält, wovon der erste der reine Religionsglaube (ohne Statuten auf bloße Vernunft gegründet), der andere der Kirchenglaube, der ganz auf Statuten beruht, genannt werden kann, die einer Offenbarung bedurften, wenn sie für heilige Lehre und Lebensvorschriften gelten sollten", ibid. 1. Abs. II Anh. I Materie d. Streits (V 4, 78).

Aus der Dreieinigkeitslehre (s. d.) nach dem Buchstaben genommen „läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber, wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt“. Anders, wenn man diese Lehre moralisch interpretiert. Ebenso steht es mit der Lehre der Menschwerdung der einen Person der Gottheit Der Gottmensch ist vorzustellen als „die in Gott von Ewigkeit liegende Idee der Menschheit in ihrer ganzen ihm wohlgefälligen moralischen Vollkommenheit“. Die Auferstehung Christi läßt sich so auffassen, „daß wir Ursache haben zu glauben, Christus lebe noch und unser Glaube sei eitel, wenn selbst ein so vollkommener Mensch nicht nach dem (leiblichen) Tode leben sollte“, ibid. II Philos. Grundsätze .. I (V 4, 80 ff.).

Der hierarchische Katholizismus muß als „Symbol des rationalen“ angesehen werden, der „die Idee eines Reichs Gottes auf Erden“ ist, Lose Bl. G 3. Vgl. Bibel, Dreieinigkeit, Gnade, Genugtuung, Kirche, Glaube, Pietismus, Liebe, Religion.