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Abteilung X.
 
Über die Wunder.
Abschnitt II.

 

     Eines der best bezeugten Wunder in der Profan-Geschichte ist das, was Tacitus von Vespasian erzählt, der einen Blinden in Alexandrien mittelst seines Speichels und einen Lahmen durch die bloße Berührung seines Fußes heilte, in Folge einer Erscheinung des Gottes Serapis, welcher ihnen aufgegeben hatte, sich wegen dieser Wunderkuren an den Kaiser zu wenden. Man kann diese Geschichte bei diesem klassischen Schriftsteller nachlesen.8 Alle Umstände vereinigen sich, um diese Nachricht zu beglaubigen; dies könnte mit aller Kraft der Beredsamkeit und Beweisführung weiter dargelegt werden, wenn Jemand noch ein Interesse hätte, die Zeugnisse für diesen erloschenen und götzendienerischen Aberglauben zu verstärken. Dahin gehören der Beruf, die Ruhe, das Alter und die Rechtschaffenheit eines so großen Kaisers, welcher während seines ganzen Lebens mit seinen Freunden und Hofleuten vertraulich verkehrte und niemals den außerordentlichen Schein göttlichen Wesens sich beilegte, wie Alexander und Demetrius. Ebenso war der Geschichtsschreiber ein Zeitgenosse und wegen seiner Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit bekannt; er war vielleicht der größte und scharfsinnigste Kopf des ganzen Altertums und so frei von jeder Neigung zur Leichtgläubigkeit, dass er den entgegengesetzten Vorwurf der Gottlosigkeit und Weltlichkeit sich zugezogen hat. Die Personen, auf deren Ansehen er das Wunder erzählt, waren sicherlich von anerkannter Wahrhaftigkeit und Urteilsfähigkeit; sie waren Augenzeugen der Tatsache, und wiederholten ihr Zeugnis, als die Flavische Familie die Herrschaft verloren hatte und als Preis der Lüge keine Belohnung mehr austeilen konnte. Alle, die dabei waren, sagt Tacitus, erzählen es noch jetzt, wo die Lüge keinen Lohn mehr zu hoffen hat. Nimmt man die Öffentlichkeit des erzählten Vorganges hinzu, so kann es nicht leicht einen stärkeren Beweis für eine so grobe und offenbare Unwahrheit geben.

     Auch der Kardinal von Retz erzählt eine merkwürdige Geschichte, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Bei seiner Flucht nach Spanien, um der Verfolgung seiner Feinde zu entgehen, kam dieser intrigante Staatsmann nach Saragossa, der Hauptstadt von Aragonien, wo man ihm in der Kathedrale einen Mann zeigte, welcher sieben Jahre als Türhüter gedient hatte, und der jedem Einwohner, welcher in dieser Kirche gebetet hatte, wohl bekannt war. Er hatte die ganze Zeit nur ein Bein gehabt; aber durch Einreibung des Stumpfes mit heiligem Öl hatte er das andere wieder bekommen, und der Kardinal versichert, dass er ihn mit zwei Beinen gesehen habe. Dies Wunder wurde von allen Domherren bestätigt, und die ganze Bürgerschaft wurde zur Versicherung der Tatsache angerufen; der Kardinal fand, dass sie bei ihrem frommen Eifer vollständig an das Wunder glaubten. Hier ist der Berichterstatter ebenfalls ein Zeitgenosse des angeblichen Wunders; er ist von ungläubigem und sittenlosem Charakter, aber auch von scharfem Geiste. Das Wunder ist so eigener Natur, dass ein Betrug kaum möglich war, und die Zeugen waren zahlreich und gewissermaßen Zuschauer der Tatsache, welche sie bekundeten. Was aber die Kraft des Beweises noch erheblich steigert und die Verwunderung über diesen Fall verdoppeln muss, ist, dass der Kardinal, der sie erzählt, sie anscheinend selbst nicht glaubt. Man kann ihn daher nicht als der Mithülfe bei diesem heiligen Betruge verdächtigen. Er urteilte richtig, dass, um eine solche Tatsache zu verwerfen, es nicht gerade darauf ankomme, die Zeugnisse zu widerlegen und ihre Falschheit durch alle Züge von Leichtgläubigkeit und Schlechtigkeit zu verfolgen, welche sie zuwege brachten. Er wusste, dass dies schon bei einem geringen Abstande nach Zeit und Ort unmöglich wird, und dass selbst da, wo man unmittelbar gegenwärtig ist, es in Folge des Aberglaubens, der Unwissenheit, Pfiffigkeit und Gemeinheit eines großen Teiles der Menschen sehr schwer fällt. Er schloss deshalb wie ein vernünftiger Mann, dass solche Beweise die Unwahrheit schon auf ihrer Stirne trügen, und dass jedes auf menschliches Zeugnis gestützte Wunder mehr ein Gegenstand des Spottes als der Widerlegung sei.

 

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8 Tacitus' Geschichten. Buch V. Kapitel 8. Sueton erzählt im Leben Vespasian's die Geschichte ziemlich ebenso.

 


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Seite zuletzt aktualisiert: 01.10.2004