Dialektik - Paralogismen - Antinomien
Die transzendentale Dialektik hat es mit der Vernunft (im engeren Sinne, im Unterschiede vom Verstande) und mit den Illusionen zu tun. welche aus der falschen Anwendung der Vernunftbegriffe entspringen, sie ist also eine Kritik der (älteren, dogmatischen, transzendenten) Metaphysik. Die Dialektik: ist die »Logik des Scheins«, die transzendentale Dialektik die »Kritik des dialektischen Scheins«. Die in der Natur der Vernunft liegende Dialektik, die zur Verwechslung subjektiver Notwendigkeit des Fortgangs im Denken mit objektiver Realität führt, beruht auf »ursprünglichen, natürlichen Illusionen«, auf einem »transzendentalen Schein«, den sie nicht gänzlich zerstören, wohl aber unschädlich machen und begründen kann. Eine Selbsterkenntnis der reinen Vernunft ist das beste Mittel gegen die Verwirrungen und Widersprüche, in welche sie gerät, »wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet und dasjenige transzendenterweise aufs Objekt an sich bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauche angeht«. »Immanent« bedeutet hier: innerhalb des Bereiches möglicher Erfahrung und möglichen Denkens bleibend. Die Vernunft (im engeren Sinne) ist nun das »Vermögen der Prinzipien«, der systematischen Einheit der Verstandesbegriffe, das Vermögen, zu schließen, vom Allgemeinen das Besondere abzuleiten, das Unbedingte zum Bedingten zu suchen, also alles unter eine höchste Einheit des Denkens zu bringen. Die Vernunft geht nicht direkt auf Erfahrung oder Gegenstände dieser, sondern auf den Verstand, um dessen Urteilen apriorische Einheit durch Begriffe zu geben (»Vernunfteinheit«). Sie hat »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird«, also die Verstandeserkenntnisse zu höchster Synthese zusammenzufassen.
Wie die Kategorien mit den Urteilen, so hängen mit den verschiedenen Arten der (Vernunft-)Schlüsse die reinen Vernunftbegriffe oder Ideen zusammen. Sie sind Begriffe, denen in der Erfahrung kein Gegenstand gegeben werden kann. Die »transzendentalen Ideen« betrachten alle Erfahrungserkenntnis als »bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen«. »Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher notwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung.« Daher sind sie nicht wie die Kategorien »konstitutiv«, d.h. nicht Bedingungen von Gegenständen, sondern nur »regulativ«, die Richtung des Denkens, der Einheitssetzung bestimmend und nur dann, wenn sie als methodische Regeln des Fortgangs im Denken gebraucht werden, nicht als Begriffe von Dingen und deren Verhältnissen, werden sie frei von dialektischem Schein: »Der Grundsatz der Vernunft... ist eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bei einem schlechthin Unbedingten stehen zu bleiben. Er ist also kein Prinzipium der Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände der Sinne.« Auch die Ideen also führen nicht wirklich ins Transzendente, sie regeln nur den immanenten Verstandesgebrauch, geben ihm nur die Richtung aufs Unbedingte, Unendliche, nicht dieses selbst als abgeschlossene Einheit. — Die Vernunftschlüsse gliedern sich in kategorische, hypothetische und disjunktive. Die darauf gegründeten Vernunftbegriffe (Ideen) sind: das Unbedingte der kategorischen Synthesis in einem Subjekt (Seele), das Unbedingte der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe (Welt), das Unbedingte der disjunktiven Synthesis zu einem System (Gott). Die dialektischen Vernunftschlüsse, die sich darauf beziehen, sind die psychologischen Paralogismen, die kosmologischen Antinomien und die Beweise für das Dasein Gottes.
Die transzendentalen Paralogismen sind Fehlschlüsse betreffs der Natur der Seele, welche auf Grund der psychologischen Identität und logischen Einheit des Subjekts als eine einfache, immaterielle, unvergängliche Substanz bestimmt wird, ohne daß diese Eigenschaften aus jener Identität und Einheit folgen. In Wahrheit wird das Ich, das Subjekt des Denkens nur als ein X gedacht, welches nur durch seine Prädikate, die Vorstellungen erkannt wird, niemals aber abgesondert von diesen; schon deshalb nicht, weil durch die Form des »inneren Sinnes« das Ich nur als Erscheinung, nicht als Ding an sich erfaßt werden kann. also nur so, wie es den inneren Sinn »affiziert«, nicht als reines, übersinnliches Wiesen. Denn daß das Ich in seinem Denken und Wollen als Aktionsprinzip auftritt und sich als mehr als Erscheinung existierend weiß, genügt noch nicht zur Erkenntnis des Ichs an sich; Erkenntnis ohne Anschauung ist ja, nach Kant, unmöglich. Das Ich ist also stets nur Subjekt, nie Prädikat, aber nicht eine Substanz jenseits des Bewußtseins, von der wir nichts wissen. Ebenso ist die Einheit des Bewußtseins noch keine Erkenntnis der Einfachheit des Subjekts. Logische Einheit des Subjekts ist nicht reale, substantielle Einfachheit. Ferner bedeutet die Identität der Persönlichkeit in ihren Erlebnissen als Konstanz des Ichbewußtseins nicht die numerische Identität einer einfachen Seele. Daß ich endlich als psychologisch-logisches Subjekt von meinem Körper mich unterscheide, weist noch nicht auf die Möglichkeit einer leibfreien Existenz der Seele hin, deren Unsterblichkeit theoretisch nicht zu erweisen ist. Im Bewußtsein ist alles in kontinuierlichem Flusse, von einer einfachen, unveränderlichen Seelensubstanz findet sich hier nichts. Doch kann man sich die Seele so denken, als ob sie einfach wäre. also in regulativer Hinsicht. Das (empirische) Ich ist nicht das Ding an sich, sondern Erscheinung desselben wie der Körper; das beiden zugrunde liegende Ding an sich ist weder Materie noch ein denkendes Wesen. Es ist aber möglich, daß dasjenige, welches uns als ausgedehnt erscheint, für sich selbst vorstellend; denkend ist. So würde »eben dasselbe, was in einer Beziehung körperlich heißt, in einer anderen zugleich ein denkendes Wesen sein, dessen Gedanken wir zwar nicht, aber doch die Zeichen derselben in der Erscheinung anschauen können« (Annäherung an Leibniz; vgl. die Identitätstheorie Schellings, Schopenhauers, Fechners, Wundts u. a.). Das Etwas, was den äußeren Erscheinungen zugrunde liegt, könnte zugleich das Subjekt der Gedanken sein.
Die vier kosmologischen Ideen sind: 1. Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen; 2. die absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung; 3. die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt; 4. die absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung. Gemäß dem Grundsatze: »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte, gegeben« entstehen vier Antinomien, d.h. »Widersprüche, in die sich die Vernunft bei ihrem Streben, das Unbedingte zu denken, mit Notwendigkeit verwickelt, Widersprüche der Vernunft mit sich selbst«. Sie beruhen auf einer »natürlichen Täuschung«, weil die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich gilt, auf Erscheinungen angewandt wird. Jede Antinomie besteht aus einer »Thesis« und »Antithesis«. Beide sind nach Kant in den ersten zwei (»mathematischen«) Antinomien falsch, weil Raum, Zeit, Einfachheit und Zusammengesetztheit nicht Bestimmungen von Dingen an sich sind. Es gilt nur das regulative Prinzip, nirgends eine Grenze (nach oben oder nach unten) anzunehmen, soweit wir auch in der Reihe der empirischen Bedingungen gekommen sind. Also weder die Thesis: die Welt ist veränderlich und zeitlich begrenzt, noch die Antithesis: die Welt ist unendlich; weder die Thesis: die Dinge bestehen aus einfachen Teilen, noch die Antithesis: es gibt nichts Einfaches, sind richtig. Als bloße Erscheinung kann die Welt weder ein an sich unendliches noch ein an sich endliches Ganzes sein, da sie nur »im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen«, nicht als abgeschlossene Totalität gegeben ist. Ebenso ist die Menge der Teile in einer gegebenen Erscheinung an sich weder endlich noch unendlich. Der Raum besteht nicht aus unendlich vielen Teilen, er ist nur ins Unendliche teilbar, ebenso wie wir die Grenzen von Raum und Zeit immer weiter hinausrücken können. — Die beiden letzten (»dynamischen«) Antinomien lösen sich so, daß die Thesis für das Ding an sich, die Antithesis für die Erscheinungen gilt. Also: im Reiche des Ding an sich (des Intelligiblen, Noumenalen) herrscht Freiheit (»Kausalität durch Freiheit«), in der Natur hingegen ist alles (auch das Handeln des Menschen) streng und ausnahmslos gesetzlich, bedingt, notwendig. Ferner gibt es in der Erscheinungswelt kein Absolutes, keine »schlechthin notwendiges Wesen«, wohl aber jenseits der Erscheinungen überhaupt. Die Antinomien setzen den transzendentalen Idealismus voraus, sind aber auch eine Stütze für denselben, wie später besonders Fries betont.