Ästhetik
Ästhetik (gr. von aisthêtos = sinnlich wahrnehmbar, gebildet) heißt zunächst die Lehre von der Sinneserkenntnis. In dieser ursprünglichen Bedeutung braucht Kant (1724-1804) das Wort in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), die aus der Aufgabe erwachsen war, die Grenzen der Sinnlichkeit und des Verstandes zu bestimmen. Der erste Teil der Elementarlehre in diesem Werke ist die transzendentale Ästhetik. Sie bestimmt die Sinneserkenntnis als das Vermögen der Anschauungen, als Rezeptivität, und weist als reine, allgemeine und notwendige, nicht aus der Erfahrung stammende Form der sinnlichen Erkenntnis Raum und Zeit nach. – Gewöhnlich und in zweiter Linie versteht man aber unter Ästhetik die Wissenschaft von den Gefühlen, welche durch das Schöne und das ihm Verwandte oder Entgegengesetzte hervorgerufen werden, und den Urteilen, die sich auf diese Gefühle gründen. Zur Wissenschaft erhoben und so benannt ward diese Disziplin erst durch den Wolfianer A. G. Baumgarten (1714-62) [„Aesthetica“ (1750-58)]; vor ihm wurde nur beiläufig von den ästhetischen Begriffen gehandelt. So definiert z. B. Platon, (427-347), dem von den Neueren Shaftesbury (1671-1713) gefolgt ist, das Schöne (im Phaidros) als das Nachbild der Ideen, in deren Reich die Idee des Guten die herrschende ist, während er (im Philebos) die Freude am Schönen diejenige Lust nennt, welche durch Wahrnehmung eines Verhältnismäßigen und Ebenmäßigen erzeugt wird. Aber Platon sondert das Schöne nirgends scharf vom Guten. Die Schönheit dient bei ihm nur ethisch-politischen Zwecken, und gegen die Kunst verhält er sich ablehnend. Aristoteles (384-322) gibt in seiner „Rhetorik und Poetik“ eine Reihe empirischer Regeln über das Schöne. Er geht von einzelnen Beispielen des Schönen aus, prüft das allen Gemeinsame und findet es in der Ordnung, im richtigen Verhältnis der Teile, in der Begrenztheit und angemessenen Größe, in dem Zusammenhang und der Vollständigkeit, mithin in der Einheit im Mannigfaltigen, also in der Form der Dinge. Das Wesen der Kunst setzt er in die Nachahmung (mimêsis). Aber er leitet das Wesen der Kunst noch nicht aus der menschlichen Natur ab. Dies hat erst Baumgarten (1714-1762) getan, indem er, von den Grundlehren der Philosophie Leibniz’ und Wolfs und von französischen Anregungen (Dubos) ausgehend, die Ästhetik als Paralleldisziplin neben die Logik stellte. Wie diese das höhere Erkenntnisvermögen, das Begriffsvermögen, solle jene das niedere Erkenntnisvermögen, die sog. Sinnenerkenntnis (Aesthetica est scientia cognitionis sensitivae) behandeln. Demgemäß lehrten die Ästhetiker der Wolfschen Schule (Eschenburg, Eberhard, Sulzer, Mendelssohn), daß die ästhetische Erkenntnis nur eine Vorstufe der intellektuellen sei. Zur Geschmackslehre und Lehre vom Schönen ward aber für Baumgarten und seine Nachfolger die Ästhetik durch den optimistischen Gedanken der Leibnizschen Philosophie: In der Welt liegt der höchste Grad der Vollkommenheit, den der Schöpfer in sie hineinlegen konnte; erkennen wir diese Vollkommenheit begrifflich, so heißt sie Wahrheit, erkennen wir sie durch die Sinne, so heißt sie Schönheit; Schönheit ist also der Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis. Die Lehre von der sinnlichen Erkenntnis wird daher nach der Annahme des Wolfianers durch die Beschaffenheit des Weltalls von selbst zur Schönheitslehre. Die Erklärung der Schönheit als sinnlich erkannter Vollkommenheit macht aber Baumgarten wie Aristoteles zum Formalisten; denn Vollkommenheit ist ihm die Übereinstimmung der einzelnen Teile eines Gegenstandes zum Ganzen. Von Aristoteles entlehnt er auch das Prinzip der Nachahmung in der Kunst, aus dem er das Verbot des Heterokosmischen für den Künstler ableitet. Baumgartens Formalismus ist die Ästhetik des Rationalismus. – Um dieselbe Zeit griffen die Engländer in die Untersuchung über das Schöne ein und begründeten, indem sie den Blick auf die subjektiven Bedingungen der Schönheit richteten, die sensualistische Ästhetik. Hutcheson (1694-1747) schied niedere und höhere Sinne von einander und leitete die Empfindung des Schönen nur aus den letzteren, Gehör und Gesicht, ab. Hume (1696-1782) führte diese Untersuchungen fort und wies nach, daß die ästhetischen Empfindungen frei von der Beimischung des Verlangens seien. Burke (1730-97) untersuchte die Ideen vom Schönen und Erhabenen und führte jene auf den Geselligkeitstrieb, diese auf den Selbsterhaltungstrieb zurück. Die Untersuchungen der englischen Ästhetiker wurden in Deutschland beachtet und wirkten auf Lessing, Herder und besonders auf Kant in den Jahren 1760-1770 ein. Kant (1724-1804), in seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790), findet das Schöne, das er scharf von dem Guten und Angenehmen trennt und das er auf die Verbindung der Urteilskraft mit dem Gefühlsvermögen gründet, in der Zweckmäßigkeit der Form, welche ein allgemeines und notwendiges, uninteressiertes Wohlgefallen in uns errege. Den Grund, warum gewisse Dinge oder Verhältnisse dies tun, sieht er darin, daß bei der Vergleichung der Anschauung mit dem Verstande sich eine Lust an der Harmonie zwischen beiden herausstelle. Kants Standpunkt in der Ästhetik ist die Verbindung des (ethischen) Idealismus mit dem Rationalismus. Das Prinzip des Geschmacksurteils stammt aus reiner Vernunft (Rationalismus); aber nicht die Welt an sich ist schön, sondern der Mensch trägt den aus seiner Urteilskraft und seinem Lustgefühl entstandenen Begriff der Schönheit in die Welt hinein (Idealismus). Kant ergänzt jedoch seinen rationalistischen und idealistischen Grundgedanken, der der Schönheit zwar alle Bestimmtheit des Begriffs, nicht aber alle Bedeutung raubt, durch die Idee, daß die schönen und erhabenen Dinge wie Symbole des Sittlich-Guten wirken. Schiller (1759-1805) hatte 1789 in dem Gedichte „Die Künstler“, dessen Idee die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit ist, sich der deutschen Ästhetik vor Kant angeschlossen. Später betonte er im Anschluß an Kant mehr die Form, „das Gefäß des Inhaltes“; das Gleichgewicht der sinnlichen und vernünftigen Tätigkeit hielt er für die Normalstimmung des Künstlers und die Geburtsstätte des Schönen. Dieser Standpunkt erschien ihm freilich als ein Ideal. Schönheit ist ihm die Freiheit in der Erscheinung, die Natur in der Kunstmäßigkeit, die Versöhnung zwischen Verstand und Sinnlichkeit. Vor allem nimmt Schiller aber die Idee Kants auf, daß das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten wirke. Die Anmut tritt z. B. da in die Erscheinung, wo der Mensch die Vernunftpflichten und Naturtriebe zur Einheit und Harmonie und diese Harmonie zum Ausdruck gebracht hat. – Schelling (1775-1854) hingegen behauptete, indem er die Ästhetik der Philosophie des Absoluten schuf, da Natur und Geist, Ideales und Reales gleich seien, das Schöne sei dasjenige, dessen sinnliche Existenz durchweg dem Idealen entspreche, also die Einheit des Realen und Idealen. (Vgl. Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. 1807.) Diesen Standpunkt führt geistvoll Solger in seinem „Erwin, vier Gespräche über das Schöne und die Kunst“ 1815 durch. Hegel 1770-1831 („Ästhetik“, herausgeg. von Hotho, 1835) schuf eine rein (logisch-)idealistische Ästhetik, indem er das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erscheinung, als das sinnliche Scheinen der Idee bestimmte. Seine erste Existenz findet es in der Natur und, wie Vischer („Ästhetik“ 1846 -1857) hinzufügt, in der Geschichte. Dort existiert es aber nur unbewußt, daher mangelhaft, bewußt erst im sinnlichen Geiste, in der Phantasie. Sobald die Phantasie sich verwirklicht, entsteht die Kunst. Das Kunstwerk existiert, losgelöst von seinem Urheber, unbefangen und absichtslos, wie ein Werk der Natur; doch ebensosehr entstammt es dem Geiste; denn es ist eine Verkörperung der Idee. Die einzelnen Künste erscheinen so als die stufenmäßige Herausarbeitung des Geistes aus der Materialität. Sie treten nacheinander als die symbolischen, klassischen und romantischen Künste auf. Die bildenden Künste sind stumm, massenhaft, noch durchweg material; die Musik bewegt sich in der idealgesetzten Materialität des Tones, die Poesie auf fast rein geistigem Gebiete; sie ist der Übergang des Geistes zum reinen Denken. Die Sprache, deren sie sich bedient, ist kein sinnlicher Stoff, sondern nur das Vehikel des Geistes. Die Ästhetik umfaßt also das ganze Reich des Schönen, die Kunst ist nur eine Provinz davon. Herbart (1776 bis 1841), dessen Philosophie im Grunde auf der Wolfs beruht, erneuerte den Formalismus der rationalistischen Ästhetik und dehnte Schillers Satz: „Die Vertilgung des Stoffes durch die Form ist das wahre Kunstgeheimnis des Meisters“ auf die ganze praktische Philosophie aus und bezeichnete demnach die Ethik als Teil der allgemeinen Ästhetik, der Wissenschaft vom Gefallenden und Mißfallenden überhaupt. (Vgl. Herbart, Allg. prakt. Philos. 1805. Lehrb. z. Einl. in d. Philos. 4. Aufl. 1837; und Rob. Zimmermann, Allg. Ästhetik als Formwissenschaft 1865.) Die Ästhetik handelt demnach bei ihm von den Formen, durch welche ein beliebiger Vorstellungsinhalt, sei er nun Abbildung der Wirklichkeit oder bloß Erfindung, Anspruch auf Gefallen oder Mißfallen erlangt. Beim Schönen handelt es sich also um ein Bild, und die Ästhetik darf weder mit der Kunstgeschichte noch mit der Metaphysik verwechselt werden. Der Grund für das ästhetische Gefallen liegt nicht in den unverbundenen Teilen (der Materie) einer Vorstellung, sondern nur in deren Verbindung zu einem Ganzen (ihrer Form). Diese gefallen entweder wegen ihrer Stärke (Quantität), oder wegen ihres Inhalts (Qualität), d. h. es gefällt das Große und das Harmonische. Die Zusammenfassung beider in ein der Form des Charakteristischen entsprechendes Nachbild, eines die Formen der Vollkommenheit (Größe, Fülle, Ordnung), des Einklangs, der Korrektheit und des abschließenden Ausgleichs an sich tragenden Vorbildes erzeugt das Schöne. Die Durchführung jeder einzelnen Elementarform innerhalb eines Gesamtbildes führt zu den abgeleiteten Formen des ästhetischen Reinheits-, Freiheits-, Wahrheits- und Vollkommenheitssystems.
Eigene Wege in der Ästhetik gehen Jean Paul („Vorschule der Ästhetik“ 1804), A. Schopenhauer („Die Welt als Wille und Vorstellung“, 3. Buch, 3. Aufl. 1859), J. H. v. Kirchmann („Ästh. auf realist. Grundlage“ 1868) und E. v. Hartmann („Philosophie des Schönen“ 1888).
Der Ästhetik hat, wie ihre Geschichte zeigt, bisher die richtige Methode gefehlt. Sie ist zu sehr den Bahnen der Metaphysik gefolgt. Die richtige Methode der Ästhetik kann nur die empiristische sein. Von der Beobachtung des Naturschönen und der auf die Kunstgeschichte gegründeten Kritik hat alle ästhetische Forschung auszugehn. Denn jedes Naturprodukt trägt seine eigene Schönheit in sich, und jedes Kunstwerk ist national, historisch und individuell bestimmt. Daneben freilich hat die Ästhetik das Wesen der Natur und des Menschen nach ihrer Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit zu untersuchen. An die biologischen und psychologischen Voraussetzungen haben sich Untersuchungen über das Wesen des künstlerischen Schaffens zu schließen, um endlich die Künste im einzelnen betrachten zu können. Die Ästhetik muß also nicht von der Metaphysik, sondern von der Erfahrung ausgehen; nicht der Begriff des Schönen, sondern das Wesen der einzelnen Schönheit ist ihre Basis. Ein absolutes Schöne gibt es höchstens als Ideal; in der Wirklichkeit existiert stets nur das Schöne eines bestimmten Gegenstandes. Die Gliederung der Ästhetik erfolgt, indem mit den Untersuchungen über die subjektiven und objektiven Bedingungen der Gefühle des Schönen und der ihm verwandten Gefühle begonnen, dann das Schöne der Natur und zuletzt das ganze Gebiet der Künste durchmessen wird. Vgl. C. Köstlin, Ästhetik 1863-1869, C. Lemcke, Populäre Ästhetik, 4. Aufl. 1873, und R. Prölss, Katechismus der Ästhetik 1878. J. Cohn, psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik. Arch. f. system. Philos. 1904. H. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik 1889.