Anthropologie
Anthropologie (aus dem Gr. von anthrôpologos = von dem Menschen redend), die Lehre vom Menschen, bestimmt das Wesen des Menschen nach Leib und Seele und verfolgt seine Entstehung, Entwicklung und Verbreitung über die Erde. Sie zerfällt je nach ihrem besonderen Gegenstande in die somatische Anthropologie (Anatomie und Physiologie), welche den Leib und seine Funktionen, die biologische, welche die Lebensvorgänge, die psychische, welche die Seele des Menschen, und die sozialpolitische, welche das Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Gesellschaft behandelt. Die erste und zweite Wissenschaft ist eine naturwissenschaftliche Disziplin, die dritte eine philosophische, die vierte eine sprachwissenschaftliche und historisch-archäologische. Die Anthropologie beruht also auf Naturwissenschaft, Philosophie, Sprachwissenschaft, Geschichte und Archäologie und ist für diese Wissenschaften, sowie für die Jurisprudenz und Theologie eine Mitarbeiterin. (Vgl. Völkerpsychologie.) Der Schöpfer der Anthropologie als Wissenschaft war Aristoteles (384-322); aus der alexandrinischen Schule beschäftigten sich Herophilos (um 280 v. Chr.) und Erasistratos (um dieselbe Zeit) mit ihr. Das Mittelalter kannte die anthropologische Forschung nicht; erst Arnoldus v. Villanova (1235-1312), der die erste öffentliche Sektion zweier weiblicher Leichen in Bologna vornahm, begann wieder das Studium der Anthropologie. Die Naturphilosophen der Reformationszeit wie Paracelsus (1493-1541) und van Helmont (1577-1644) waren meist Theosophen und hatten nur geringes anthropologisches Interesse; doch wies um dieselbe Zeit Bacon v. Verulam (1561 -1626) auf die Erfahrung als das beste Hilfsmittel der Forschung hin. Dieses Prinzip wandte dann J. Locke (1632-1704) und seine Schule einseitig an, so daß der Empirismus bald in Sensualismus und Materialismus ausartete. Ihm traten die Idealisten Cartesius (1596-1650), Spinoza (1632-1677), Leibniz (1646-1716) und Wolf (1679-1754) gegenüber. Alle diese Philosophen förderten aber die psychische Anthropologie. Durch Harvey (1578-1658), welcher den Blutumlauf (1619) entdeckte, wurde die neuere physiologische Richtung begründet, der auch A. v. Haller (1708-1777) angehörte, während der Vitalismus, d. h. die Annahme einer besonderen Lebenskraft, in Frankreich besonders Anklang fand. Berühmte exakte Forscher auf dem Gebiete der Anthropologie waren dann in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Peter Camper, Sömmering, Blumenbach, Burdach, Joh. Müller und Virchow. Die erste systematische Einteilung des Menschengeschlechts in (3) Rassen machte Cuvier (✝ 1832), während Ch. Bell (✝ 1842) die moderne Nervenphysiologie begründete. Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798“ gab manche Anregung. An Schellings Auffassung, daß der Mensch ein Glied am Organismus Gottes sei, knüpfte der Mesmerismus (s. d.) an, der erst schwand, als die neueren Psychologen: Herbart, Beneke, Lotze, Waitz, Brentano, Fechner, Wundt u. a. die Psychologie naturwissenschaftlich und vergleichend bearbeiteten. Die vergleichende Methode der „Völkerpsychologie“, wie Lazarus und Steinthal sie nannten, ward dann auf Religion, Sittlichkeit und Sprache übertragen, und die von Quételet begründete Statistik leistete vielfach willkommene Hilfe; eine ganz neue Betrachtung endlich hat Darwins Theorie auch der Anthropologie gebracht.
Aus der reichen Literatur heben wir hervor: Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798; Burdach, A. für das gebildete Publikum 1846; H. Lotze, Medizinische Psychologie 1852; A. Quételet, Physique sociale, dtsch. von Ricke 1838; F. G. Klemm, Allgemeine Kulturwissenschaft 1854; Th. Waitz, Anthr. der Naturvölker 1859-1873; Huxley, Zeugnisse f. d. Stellung des Menschen in d. Natur (aus d. Engl. 1863); Lyell, d. Alter d. Menschengeschlechts (aus d. Engl.); Bastian, der Mensch in d. Geschichte 1860; Ch. Darwin, d. Abstammung d. Menschen 1871; Joh. Ranke, Der Mensch, Leipzig 1886/87.