Energie
Energie (gr. energeia, lat. actio), Tätigkeit, bezeichnet bei Aristoteles (384-322) die Form der Dinge, die Vollendung, Ausbildung oder Erfüllung der Anlage, die dem Stoff eigen ist. Die Materie ist die Möglichkeit oder Anlage und als solche im relativen Sinne ein Nichtseiendes, das Nochnichtsein des vollendeten Gebildes. Die Form (entelecheia oder energeia) ist der Vollendungszustand und die wirkliche Tätigkeit des Vollendeten. Der Energie entgegengesetzt ist das Beraubtsein oder der Mangel (sterêsis). Durch immanente Selbstbewegung geht aus dem Zustande der Möglichkeit (dynamis) oder des relativen Nichtseins der Zustand der Wirklichkeit (energeia) hervor; und weil dadurch das Streben der Natur zu seinem Zwecke kommt, so ist die Form (energeia) zugleich der Zweck der Natur. Aristoteles geht zwar zunächst von vier Prinzipien in der Metaphysik, dem Stoff, der Form, der Ursache und dem Zweck, aus (hylê, eidos, hothen hê archê tês kinêseôs, hou heneka, causa materialis, formalis, efficiens und finalis). Erfaßt aber die Form, die Ursache und den Zweck auch in ein einziges metaphysisches Prinzip zusammen, so daß also nur zwei Prinzipien übrig bleiben: Stoff und Form, welche sich wie Möglichkeit und Wirklichkeit zueinander verhalten. – Im physikalischen Sinne versteht man unter Energie jetzt (Young [1773-1829] hat diesen Ausdruck eingeführt. Lectures on Natural Philosophy, Lecture VII 1807) die Fähigkeit des Körpers, eine mechanische Arbeit zu leisten. Ostwald definiert sie als Arbeit, oder alles, was aus Arbeit entsteht oder sich in Arbeit umwandeln läßt. (Vorles. über Naturphilos., S. 152 ff.) Man unterscheidet aktuelle (kinetische) und potentielle Energie. Aktuelle Energie (Bewegungsenergie) ist die einer bewegten Masse vermöge ihrer Geschwindigkeit eigene, auf irgend eine Weise direkt zu bestimmende Energie; sie wird durch die lebendige Kraft (d.h. durch die Fähigkeit einer mit Geschwindigkeit behafteten Masse, sich einer Kraft entgegengesetzt zu bewegen) gemessen. Potentielle Energie (Energie der Lage und Anordnung, Summe der Spannkräfte) ist diejenige, deren Größe nur so weit zu bestimmen ist, als sie aus aktueller Energiegröße entsteht, oder in solche umgewandelt werden kann. Der Ausdruck potentielle Energie ist durch Rankine eingeführt. Ein Beispiel der aktuellen Energie ist eine Masse m, welche die Geschwindigkeit v besitzt, durch welche sie in der der Fallbewegung entgegengesetzten Richtung so hoch au steigen vermag, als sie fallen müßte, nm die Geschwindigkeit v zu erlangen. Ein Beispiel der potentiellen Energie ist ein Gewicht p, das, in der Höhe h über dem Boden hängend, sinkend die Arbeit p · h zu leisten vermag. Andere Beispiele für die potentielle Energie sind: das gestaute Wasser eines Mühlenteiches, die gespannte Feder einer Taschenuhr, ein gespannter Bogen, die chemische Energie des Schießpulvers usw. Der Vorgang, bei welchem durch Leistung einer kleinen Arbeit eine große potentielle Energie veranlaßt wird, sich in mechanische Arbeit umzusetzen, heißt Auslösung der Energie. – Die Beobachtung, daß bei vielen Bewegungen in der Welt potentielle Energie in aktuelle umgesetzt wird, hat das Bedürfnis hervorgerufen, dieser Umsetzung auch da nachzuforschen, wo eine Ausnahme stattzufinden und lebendige Kraft verloren zu gehn scheint. J. Robert Mayer (1842) und James Prescott Joule (1850) erkannten, daß z.B. die beim Stoß unelastischer Massen erzeugte Wärme der verlorenen aktuellen Energie entspräche, daß zwischen der erzeugten Wärmemenge und der anfgewendeten Arbeit ein festes und unveränderlishes Verhältnis bestehe. Es ist eine Arbeit von 423,55 Kilogrammetern erforderlich, um 1 kg Wasser um 1°C zu erwärmen (mechanisches Äquivalent der Wärmeeinheit). Durch v. Helmholtz (1821-1891) wurde diese Auffassung auf alle Gebiete der Physik übertragen und der Satz von der Erhaltung der Energie gewonnen, der besagt, daß die Summe der aktuellen und potentiellen Energie zu jeder Zeit konstant ist. Durch mechanische Arbeit werden lebendige Kraft, Wärmezustände, elektrische Zustände usw. hervorgerufen, die beim Verschwinden wieder nach festem Verhältnis in mechanische Arbeit umgesetzt werden. – Im anthropologischen Sinne bedeutet Energie soviel wie Willensanstrengung, Willensstärke. (Vgl. Maxwell, Matter and Motion, Substanz und Bewegung, übersetzt von E. v. Fleischl. Braunschweig 1881, Kp.V. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie 1901. 3. Aufl. 1905. Poincare, Wissenschaft und Hypothes. übers, von Lindemann. Lpz. 1904).