Eine Reminiszenz
Nur damit die denkwürdige Tatsache nicht verloren gehe, daß die Wiener Presse sich 1913 an etwas erinnern mußte, was ihr 1905 zu vergessen gelang, sei das Folgende reproduziert:
›Fremdenblatt‹:
.... Nicht zum erstenmal. Denn schon vor etlichen Jahren hat Karl Kraus dieses Werk vor einem Kreis geladener Zuschauer auf die Szene gebracht ....
.... wie vor Jahren, bei der ersten (besseren) Aufführung ....
›Wiener Allgemeine Zeitung‹:
... Wedekinds infernalische Komödie ist schon einmal in Wien vor geladenen Gästen gespielt worden. In einer Vorstellung, die Karl Kraus zu danken war. Damals ging es nicht Arm in Arm mit einem verehrungswürdigen Publikum, gegen die Zensur. Sondern für Wedekind gegen ein verachtungswürdiges Publikum. Die gestrige Vorstellung, an tiefen Eindrücken ärmer als die seinerzeitige im Intimen Theater, war durchaus respektabel, gut, wirksam. Aber die »Büchse der Pandora« braucht eine Darstellung, so fern allem Theater-Üblichen, wie das Werk fern allem Literarisch-Üblichen ist ....
›Arbeiter-Zeitung‹:
.... Zu dem Eifer der Behörde gesellte sich das feierliche Tamtam, mit dem die Vorstellung seit Wochen eingeleitet wurde. Wir erinnern uns der schlichten ersten Wiener Aufführung, die man Karl Kraus zu danken hatte. Damals gab es nicht soviel Kulturtat, dafür die Tat einer erkannten und erfüllten Pflicht gegen einen Dichter, zu dem sich zu bekennen, dem zu dienen damals noch Mut erforderte. Damals war das Publikum auch nicht gekommen, um dabei gewesen zu sein wie beim Künstlertee irgend eines Wohltätigkeitsvereines, sondern damals kamen Verehrer des Dichters, willig, sein Wort auf sich wirken zu lassen. Damals spürte man die Gewalt dieses scheinbar harmlosen Dialogs, damals ward das Grauen dieser Tragödie gefühlt, der Hohn ihrer Satire verstanden, das Herzleid ihrer Liebe empfunden. Und so war jene alte Aufführung weitaus besser als diese neue, trotz Frau Eysoldt und trotz Friedrich Kayßler (Alwa Schön), weil sie durch Darsteller und Hörer dem Dichter und seinem Werke näher stand ....
›Zeit‹:
.... Freilich, die ganze Fülle der Humore und Bekenntnisse müßte von anderen Schauspielern hervorgeholt werden; der geistige Gehalt der Dichtung kam unvergleichlich stärker in jener Vorstellung heraus, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus vor manchen Jahren veranstaltete ....
Herr Zw. in der ›Abendpost‹ ist diskret:
.... Das erfolgreiche Gastspiel der Damen Eysoldt und Fehdmer sowie Herrn Kayßlers schuf die Möglichkeit, in der nicht mehr neuen Form einer Vorstellung vor geladenen Gästen die Fortsetzung von Wedekinds »Erdgeist«, in der der Dichter den Lebensgang seiner Heldin Lulu zum Abschlüsse bringt, wieder einmal aufzuführen ....
Ich bin auch diskret und will nicht verraten, wie Herr Zw. vollständig heißt. Es ist ein bekannter Historiker, der sich da um die Vergangenheit herumdrückt, um zur Gegenwart zu kommen.
Die Kollegen in der ›Neuen Freien Presse‹ und im ›Extrablatt‹ sind so verschwiegen, daß man ihnen nicht einmal etwas anmerkt. Was das Werk selbst betrifft, so scheinen die meisten offenbar wirklich von nichts zu wissen. Im allgemeinen bestehen Zweifel, ob Wedekind durch die Vorführung des Lasters abschrecken oder diesem huldigen wollte. Manche sind dagegen, daß »die Kanalgitter von den Senkgruben einer hemmungslosen Sexualität gehoben« werden, in welcher Absicht immer es geschehe. Der Sexualtrieb wird fast überall verrissen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 370/371, XIV. Jahr
Wien, 5. März 1913.