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Zwei Bücher

Wer der Fackel glaubt, möge Karl Hauer nicht vergessen, dem der Vorsprung der beweglichen Unfähigkeit noch immer den Platz weggenommen hat, auf den ihn die Lebenssorge anwies. Da im weiten Gebiet literarischer Existenzen alles besetzt und bestellt war und zwischen Redakteuren, Dramaturgen und Lektoren nicht mehr ein Fingerbreit Aussicht, blieb jenem nur noch übrig, in schwere Krankheit zu verfallen. Mit der Sicherheit aber, die die Not verschafft, soll sich das Gewissen dieser stellenvermittelnden Zeit nicht abfinden. Das wollen wir ihr versalzen. Mindestens hat sie die Pflicht, die Gelegenheit zu benützen, die es erlaubt, einem Schriftsteller auf die würdigste Art zu helfen: die Gelegenheit, sein Buch zu kaufen. Karl Hauers Essays »Von den fröhlichen und unfröhlichen Menschen«1 sind erschienen, sie wiederholen und vermehren im Buche den Genuß, den die durchklärende Kraft und Meisterschaft dem Leser gewährt hat. Sie machen nicht zuletzt deutlich, worin sich dieser Denker von jenen, die am meisten über die Habilitation des Menschen nachgedacht haben, unterscheidet: er ist tiefer in dem, was er erkennt, als in dem, was er vertritt; er sucht nur, was er gefunden hat, und darum ist er auch dort tief, wo andere nicht einmal wahr sind. Sollte diese unerbittliche Güte, die kein Wort verschwendet, noch auf ein formwürdiges Leben treffen, so beweise es sich durch die Bereitschaft, einen Außerordentlichen zu hören, zu entschädigen und die Forderung der Fröhlichkeit, die es ihm nur zu stellen gewährte, ihn auch erfüllen zu lassen.

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Albert Ehrenstein, dessen »Tubutsch«2, mit zwölf Zeichnungen von Oskar Kokoschka, außer dem neuen Hauptstück die in der Fackel veröffentlichten Arbeiten »Ritter Johann des Todes« und »Wanderers Lied« enthält, stellt den merkwürdigen Fall vor, daß in Wien eine dichterische Kraft auflebt, die mit dem ersten Wort sich einer Region entrückt, in welcher die Kunst eben noch zum beliebten Nebenbei einer wertlosen Hauptsache, Leben genannt, sich eignet. Hier aber ist ein Unteilbares; und wie einer sich das Leben schafft, der es ablehnt und dem es gut genug ist, als sein Stiefelknecht zu ihm zu sprechen, und wie einer sich von der Unscheinbarkeit die Visionen brockt, als stünde er vor des Lebens goldnem Baum: das ist zumal in dieser Gegend, in der die Plauderer und Psychologen das fertige Material bearbeiten, neu und ergreifend. Die reale Linzerstraße hat für diesen Karl Tubutsch mehr Himmel und Erde als ein weites Land, das jenen vorschwebt, die das Können können. Ihm sterben bloß zwei Fliegen, und er glaubt, daß sie Pollak heißen. Ich kann ihm darin nur recht geben. Nicht worauf so ein Kurioser kommt, sondern wovon er ausgeht, bestimmt das Maß seiner Phantasie. Er ist von jenen, die ein zu trauriges Gesicht haben, um das Leben nicht mit lachendem Rücken anzuschauen. Er hat viel gegen die Welt, die nicht viel für ihn hat; aber wie er sie hinter sich sieht und schafft, ist reicher Ersatz für beide. Er kommt auf langem Weg in die Literatur daher, fast von Laurence Sterne, seine Reise ist gefühlloser und doch an Enttäuschungen reicher. Wenn er geht, läßt er einen wohltuenden Schwefelgestank zurück. Zuweilen tritt sich sein Humor selbst auf die Füße: so sieht er noch immer durch ein Hühnerauge eine ganze Welt. Manchmal spricht ihm der Intellekt in Witz und Vision hinein, manchmal kommen alle drei ins Wortgemenge. Aber sein Geist ist ohnedies anders erschaffen, als es gewohnt, erlaubt und den andern gesund ist. Als er zur Welt kam, mochte er gerade Wichtigeres zu tun haben, und hätte jenes unterlassen, wenn er sich nicht in die Nabelschnur einen Knopf gemacht hätte; er hätte sich sonst an ihr erhängt. Nun, da er hier ist, gefällt es ihm nicht. Wenn’s brennt, hat er noch die Geistesgegenwart, das Sprungtuch in die Flamme zu werfen. Er ist einer von dem viel bemerkenswertem Stamme jener Asra, welche sterben, wenn sie leben.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 339/340, XIII. Jahr
Wien, 30. Dezember 1911.


  1. Verlag Jahoda & Siegel, Wien und Leipzig.
  2. Verlag Jahoda & Siegel, Wien und Leipzig.