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Linné

Etwa hundert Jahre erst nach den Aufräumungsarbeiten dieser Synonymik konnte der berühmte Linné mit seiner neuen umfassenden Nomenklatur der Pflanzen hervortreten. Bis auf seine Zeit war die Sprache der Botanik eine Art isolierende Sprache gewesen. Und wie nur ein wenig intelligentes Volk bequem mit einer isolierenden Sprache auskommt, wie dagegen z. B. die Chinesen Kunstgriffe — es sind Kunstgriffe vom Standpunkt unserer Sprache — anwenden müssen, um ihre viele Tausende von Begriffen dennoch übersichtlich durch ihre "isolierende" Sprache auszudrücken, so war es notwendig geworden, die Unzahl von beobachteten Pflanzen endlich in eine systematische Sprache zu zwängen. Das Wesen unserer flektierenden Sprache besteht doch darin, dass durch die Kombination von einer beschränkten Anzahl von Stammsilben mit einer beschränkten Anzahl von Bildungssilben eine ungeheure Menge von eindeutigen Ausdrücken zustande kommt. Ich habe irgendwo gesagt, dass ein vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache z. B. nicht nur das Verbum "blühen", sondern sämtliche Konjugationsformen des Wortes enthalten müßte, ebenso sämtliche Kasus des Wortes "Blüte", sämtliche Formen des Partizips "blühend" usw. usw. Uns sind die Formen der Grammatik aber so geläufig, die Analogie beherrscht uns so sehr, dass wir uns im Wörterbuche mit einer einzigen Form begnügen. Anders steht es mit einem Wörterbuche der vorhandenen Pflanzen. Die Natur arbeitet nicht wie der Sprachgebrauch, der von jedem Verbum jede mögliche Form des Paradigmas im gegebenen Augenblicke bildet. Das Wörterbuch der Botanik ist etwa so wie ein Spezialwörterbuch des Homer, welches einzig und allein die bei Homer vorhandenen Wortformen aufnimmt, diese aber vollständig. Als nun Linné, mit dem erstaunlichen Fleiße eines unphilosophischen Kopfes, daran ging, eine Nomenklatur der Botanik zu schaffen, hatte er vorher die weit schwierigere Aufgabe zu bewältigen, für das neue Wörterbuch erst eine Grammatik zu erfinden. Ist die technische Sprache der Botanik durch ihn erst zu einer flektierenden Sprache geworden, so mußte er damit anfangen, die Endungssilben selbst zu erfinden. Ganz ohne Volapük oder Esperanto konnte es dabei nicht abgehen. Dadurch unterscheidet sich ja die Entstehung der Sprache zwischen den Menschen von der Erfindung der Sprache durch einen Einzelnen, dass ein Volk mit der Sprache seinen Kenntnissen oder Erinnerungen nachhinkt, dass der Einzelne gern systematisch vorgeht und für den künftigen Zuwachs an Beobachtungen voraussorgen möchte.

Ein anderes kommt hinzu. Auch dem nüchternsten Forscher drängt sich zwischen die Freude an der Beschreibung die Sehnsucht nach einer Erklärung. Jeder Forscher ohne Ausnahme hält den neuen technischen Ausdruck, den er selbst für eine neue Beobachtung zuerst eingeführt hat, bald nachher unfreiwillig für etwas wie eine Erklärung dieser Beobachtung. Könnte man mit seinen Gedanken über die gewohnte Sprache hinausgelangen, so würde ich sagen: jeder neue technische Ausdruck sei eigentlich nur beschreibend, nur ein Adjektiv; dass man ihn als Substantiv gebrauche, sei schon der Anfang seines Mißbrauchs. Die Menschensprache wäre philosophischer, wenn sie überhaupt keine Substantive besäße.

Linné hat, als er eine Grammatik und Logik für seine Pflanzennomenklatur schuf, etwa tausend technische Ausdrücke teils besser definiert, teils neu aufgestellt. Es war ihm klar, dass diese Adjektive nur zur Beschreibung der Pflanzenerscheinungen und nicht zur Erklärung des Pflanzenlebens dienen konnten. Einen adjektivischen Sinn haben nicht nur die eben erwähnten Bezeichnungen für die Form der Blattränder, sondern auch z. B. die substantivischen Ausdrücke für den Blütenstand. Der Vorgang im Kopfe Linnés war derselbe, wie wenn ein Kind sprechen lernt. Es fielen ihm Ähnlichkeiten zwischen Blütenständen auf, die man vor ihm nicht so genau oder gar nicht beachtet hatte. Von der bekanntesten Blüte oder Frucht nahm er dann metaphorisch die Bezeichnung für ähnliche Gebilde. Als er aber erst selbst die neuen technischen Ausdrücke besaß, war er doch wieder geneigt, den Blütenstand für etwas zu halten, was dem Pflanzen leben wesentlich sei. Er verfiel nicht in Abstrusitäten, wie das Mittelalter sie liebte, welches vielleicht von einer Doldität, Rispität und dergleichen gesprochen hätte. Aber Spuren einer solchen Selbsttäuschung finden sich dennoch in seinem Denken, in der Unklarheit darüber, ob sein System ein natürliches oder ein künstliches sei. Hat er doch sogar (er war Arzt) die Krankheiten in ein System von Worten bringen wollen.

Trotzdem ist Linné mit seiner Nomenklatur der Pflanzen vielleicht der größte Sprachbildner geworden, den es je gegeben hat. Nur darf man sein Pflanzensystem mit seiner neuen Namengebung nicht verwechseln. Auch darf man nicht vergessen, dass nicht die inneren Vorzüge seiner Namengebung so bewunderungswürdig sind, sondern dass der Erfolg sie erst brauchbar machte. Es war notwendig geworden, Ordnung zu schaffen, und da Linné im gegebenen Moment und mit ungeheurem Fleiß einen praktischen Weg einschlug, so wurde seine zufällige Nomenklatur eine Macht. Als vor etwa hundert Jahren die Eegierungen aus polizeilichen Gründen Ordnung in der Kenntnis ihrer Judenschaft herstellen wollten und darum den Juden auferlegten, sich einen Familiennamen und dazu einen Vornamen beizulegen, wie es bei anderen Leuten üblich geworden war (die Sitte, dem eigentlichen Namen, dem Taufnamen, einen Familiennamen beizufügen, hat sich erst im 14. Jahrhundert eingebürgert, übrigens sehr schnell in einer Art von Titelsucht), da entstand plötzlich in ähnlicher Weise eine neue Nomenklatur; von dem Geschmack der Zeit und dem mehr oder weniger nationalen Standpunkt des einzelnen Hausvaters, auch von seinem Bildungsgrade hing es ab, ob er sich Moses Mendelssohn, Moses Tulpenthal oder Moses Pulverbestandtheil nannte; auch die historischen und unjüdischen Namen Müller, Schmidt usw. fehlten nicht. In der gewaltigen Nomenklatur Linnés finden wir die Müller und die Schmidt, aber auch die Mendelssohn, die Tulpenthal und die Pulverbestandtheil. Er hatte sich die polizeiliche Aufgabe gestellt, jede einzelne Pflanze dadurch mit einem Eigennamen zu versehen, dass er ihr einen Familiennamen und einen Taufnamen beilegte, während frühere Botaniker die ihnen bekannten Pflanzen eigentlich mit dem Namen mehr beschrieben als benannt hatten. Es gab Blumen, zu deren Benennung oder vielmehr Beschreibung früher bis zu sieben Worten gehört hatten; das waren beschreibende Worte der Umgangssprache. Linné setzte dafür einen Familien- und einen oder zwei Taufnamen, schuf dadurch erst einen technischen Ausdruck, der dann wieder mitunter in die Umgangssprache geriet. Es versteht sich von selbst, dass der ungeheure Erfolg der Linnéschen Nomenklatur nur relativ Zufallssache war. Er war der weitaus größte Kenner und Sammler von Pflanzenarten und nahm daraus seine Autorität zu einer neuen Klassifikation. Die neuen Namen selbst, insbesondere die Wahl der heute noch gültigen Trivialnamen gingen aus seinem individuellen Geschmack hervor, der nichts mit seiner Gelehrsamkeit zu tun hatte; die größte Eleganz seiner neuen botanischen Sprache bestand in ihrer Kürze.