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Sprache der Chemie

Als nun durch Priestley und Lavoisier die neue Lehre begründet worden war, dass die Verbrennung nicht eine Vernichtung, sondern eine sehr positive Verbindung mit dem Sauerstoff sei, da hießen die neuen Chemiker anfangs sehr charakteristisch die Antiphlogistiker. Dann aber übernahm Lavoisier die große Arbeit, eine neue Nomenklatur zu schaffen für die zahlreichen Stoffe, welche der Chemie bekannt waren und welche jetzt, nach den neuesten Entdeckungen, anders als bisher geordnet werden konnten. Diese Nomenklatur hat sich in ihren äußeren Umrissen bis zur Gegenwart erhalten und kann jetzt, namentlich auf dem Gebiete der chemischen Grammatik, wie ich sagen möchte, als ein Musterbild technischer Ausdrücke gelten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sind quantitative Bestimmungen hinzugetreten, welche den wissenschaftlichen Wert dieser Nomenklatur zu erhöhen schienen. Außerhalb dieser Klassifikation standen aber die Namen der Originalkörper, welche man Elemente zu nennen pflegt. Die Namen dieser (gegenwärtig ungefähr siebzig) Elementarsubstanzen sind heute noch so wenig klassifiziert, dass uralte historische, poetische und beschreibende Namen durcheinanderlaufen, wobei die wissenschaftlichen Anschauungen verschiedener Jahrhunderte ihren Einfluß verraten. Ich erinnere nur an die Worte wie: Eisen, Gold; Sauerstoff; Jod, Arsen; Fluor, Quecksilber, Kalium. Die neuesten Beobachtungen, durch welche Mendelejew imstande war, sämtliche Elemente neu zu gruppieren und sogar die Entdeckung unbekannter Elemente vorauszusagen, lassen darauf schließen, dass die Nomenklatur Lavoisiers nach hundertjähriger Geltung bald unbrauchbar geworden sein wird, dass man demnächst an die Schöpfung eines ganz neuen chemischen Wörterbuchs und einer verbesserten chemischen Grammatik wird gehen müssen.

Dabei hat die Chemie eine ganz ausgezeichnete Mittelstellung zwischen den abstrakten Wissenschaften der Mathematik und Mechanik einerseits und der Naturbeschreibung anderseits. Denn die Chemie beschäftigt sich nur mit konkreten Körpern, und es ist die Zahl dieser konkreten Körper — so groß sie auch sein mag — doch durch die Möglichkeit der Elementverbindungen beschränkt; eine Klassifikation ist also je nach Kenntnis der Elemente gegeben. Von unserem Standpunkt aus ist freilich die Chemie um den scheinbar so sicheren Besitz nicht zu beneiden; denn wir sehen, wie z. B. das Wort "Metall" — sicherlich ursprünglich ein technischer Ausdruck — in den modernen Sprachen bereits ein Ausdruck der Umgangssprache geworden ist, der gewisse wohlbekannte Körper von einem gewissen Gewicht, einem gewissen Glanz und gewissen mechanischen Eigenschaften bezeichnet, wir sehen, wie die neuere Wissenschaft sich bemüht, das alte Wort als technischen Ausdruck aufrecht zu erhalten, wie sie in den Metallbegriff die leichten Metalle, die Erdmetalle hineinzupressen sucht, wie sie im Gegensatz dazu den undefinierbaren technischen Ausdruck Metalloide bildet und wie sie jetzt eben dabei ist, die alte Bezeichnung preiszugeben. Seit etwas über hundert Jahren hat die Chemie solche Fortschritte gemacht, dass das Feuer nichts Wirkliches mehr ist, das Wasser die Verbindung zweier Luftarten, die Luft in Flüssigkeit verwandelt werden kann und die Erden aus Metallen und Luft bestehen. Da mußten freilich auch alle Begriffe flüssig werden. Jede chemische Nomenklatur ist nichts weiter als die vorläufige Anwendung einer neuen Hypothese auf die Klassifikation der Körper. Von der unhaltbaren Etymologie der alten technischen Ausdrücke soll gar nicht erst die Rede sein: wenn man von einer "süßen Säure" sprechen kann, so beweist das nur, dass "Säure" ein technischer Ausdruck geworden ist, der mit dem sauren Geschmacke nichts mehr zu schaffen hat. Nur dass die Erfindung jenes technischen Ausdrucks auf den sauren Geschmack zurückging und dass die Gruppe der "Säuren" immer unklarer und unsicherer wurde, freilich auch immer gelehrter, je weiter sie sich von dem Merkmale des sauren Geschmacks entfernte. Es ist nicht anders: die Klassifikation der natürlichen Körper nach ihren physischen Eigenschaften bereitet unübersteigliche Schwierigkeiten; die geheime Zusammensetzung aber, welche eine natürliche Klassifikation ermöglichen würde, werden wir auch nach Mendelejew niemals kennen lernen. Und wenn seine Reihe nach Atomgewichten deutlich wäre wie das Einmaleins, wir würden ja dennoch nicht wissen, was "Atom" und was "Gewicht" bedeutet. Vielleicht ist Atom nur eine Gewichtseinheit, vielleicht ist Gewicht nur eine Funktion von Wärme oder von Bewegung oder von Elektrizität oder von Leben oder von wer weiß was. "Alles fließt."