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Linnés System

Es besteht aber ein innerer Zusammenhang zwischen der Nomenklatur Linnés und seinem berühmten Versuche eines künstlichen Systems. Für das neue Wörterbuch der Pflanzen brauchte er eine neue beschreibende Sprache, eine Fülle genau definierter Adjektive; als er nun das Pflanzenreich von oben nach unten in Klassen, Ordnungen, Geschlechter und Arten einteilte, brauchte er für dieses künstliche System Einteilungsgründe, welche er doch unmöglich anders woher nehmen konnte als von seiner neuen Grammatik, von den adjektivischen Merkmalen. Überdies wollte er nicht ein bloß künstliches System aufstellen, sondern womöglich mit dem künstlichen System das natürliche treffen. In seinem Kopfe war, was nicht erst bewiesen zu werden braucht, eine vorläufige Ordnung der ihm bekannten Pflanzen vorhanden, bevor er äußerlich Ordnung machte. Sein Ideal war ein natürliches System; instinktiv griff er nach demjenigen äußerlichen Einteilungsgrunde, der der Entwicklung der Natur am nächsten zu liegen schien. Es lag auf der Hand, dass ganz Unähnliches verbunden und höchst Ähnliches getrennt worden wäre, wenn er z. B. den Blütenstand oder die Form des Blattrandes zum Einteilungsgrunde genommen hätte. Wohlgemerkt: das war nicht etwa logisch zu erschließen, sondern nur an der Wirklichkeitswelt zu beobachten. Es liegt kein logischer Grund vor, weshalb die Natur nicht verwandte Pflanzen mit gleich geformten Blatträndern hätte versehen sollen. Vor ihm hatte man die Pflanzenfrucht zum Einteilungsgrunde genommen. Linné wählte äußerlicher und erfolgreicher die ziffermäßigen Unterschiede in den Zeugungsorganen. Zahl und Lage der Samenfäden und Samenwege waren für jeden Schulknaben leichter zu bemerken.

Die Klassifikation des Pflanzenreichs war eine sogenannte logische Arbeit. Wir werden an unsere logischen Untersuchungen erinnert, an das Ergebnis, dass der Begriff bereits das Urteil und den Schluß mitenthalte, wenn wir sehen, wie Linné sich abquält, neben seinem künstlichen System das natürliche System zu erkennen. Linné sagt einmal: "Die natürlichen Ordnungen können nur aus der Betrachtung, nicht eines oder mehrerer, sondern nur aus der Betrachtung aller Teile einer Pflanze hervorgehen; — dieselben Organe können für einen Teil des Systems sehr wichtig und wieder für einen anderen Teil ganz unwichtig sein; — das Geschlecht (Genus) wird nicht von dem Charakter, sondern der Charakter wird von dem Geschlecht bestimmt; — der Charakter ist notwendig, aber nicht um das Geschlecht zu bestimmen, sondern nur es zu erkennen." Whewell tadelt daran, dass Linné sich demnach bei der Aufstellung der Ordnungen auf eine Art vorläufigen Instinktes verlasse. Das ist ja aber das Wesen der Sprache, dass sie nichts benennen kann, was der Mensch nicht vorher beobachtet und nach Ähnlichkeiten verglichen hat. Die Ähnlichkeiten aber findet der menschliche Verstand immer nur nach seinem persönlichen Interesse und nicht objektiv. Immer geht der Aufstellung eines Begriffs das instinktive Vergleichen voraus. Ebenso hat die Sprache zwischen Hund und Wolf unterschieden, nicht aber zwischen Mops und Windspiel, die sie beide zu den Hunden rechnet. Linné hatte ganz recht, als er dem Unbewußten seinen Anteil gönnte. Und er ist der würdige Vorläufer Alexander von Humboldts, wenn er sagt: "Die Eigenschaft einer Pflanze lernt man auf einem geheimnisvollen Wege kennen. Ein erfahrener Botaniker wird auf den ersten Blick die Pflanzen der verschiedenen Weltteile unterscheiden, und doch wird er verlegen werden, wenn er uns die Mittel dieser Unterscheidung angeben soll. So haben die afrikanischen Pflanzen ich weiß nicht welchen traurigen, trockenen, finsteren Anblick; die asiatischen scheinen etwas Stolzes und Hehres zu besitzen; die aus Amerika scheinen weich und heiter zu sein, und die Alpenpflanzen haben in ihrem Wachstum etwas Hartes und Gehindertes." Man sieht deutlich: Linné, der die beschreibenden technischen Namen der Pflanzenteile für Jahrhunderte hinaus geordnet und definiert hatte, besaß noch keine Sprache, um den Charakter einer Pflanze zu beschreiben. Ebenso gesteht Linné einmal brieflich, dass es ihm unmöglich sei, den Charakter der einzelnen Ordnungen anzugeben. Natürlich: benennen läßt sich nur, was man vorher beobachtet hat, und beobachten konnte man nur die brutalen Ziffern der Geschlechtsorgane.

Die — ich möchte sagen — weise Unklarheit Linnés bezüglich des künstlichen und natürlichen Systems äußert sich in einem merkwürdigen Gespräche, welches er 1771 mit einem Schüler führte. Dieser Schüler, Paul Dietrich Giseke, nahm Anstoß daran, dass Linné eingestand, den Charakter seiner Pflanzenklassen nicht zu kennen und dennoch die Klassifikation vorgenommen zu haben. Es ging dem ordnungsliebenden deutschen Kopfe gegen den Strich, dass eine Gruppe ihren Namen von einem Merkmale bekomme, das sich mit dieser Gruppe nicht decke; wie das z. B. bei den Doldengewächsen der Fall ist. Der Altmeister, so erzählt Giseke, habe dazu gelächelt und geraten, nicht auf den Namen, sondern auf die Natur der Dinge zu achten. Das weitere Gespräch zeigt nun wirklich, dass der metaphorische Name Doldengewächse nicht recht passen will, weil es doldentragende Pflanzen gibt, die man aus anschaulichen Gründen nicht zu dieser Gruppe rechnen könne. Und umgekehrt gehören zu ihr Pflanzen, die keine Dolde haben. Der ordnungsliebende Giseke wollte nun aus solchen Ausnahmsfällen neue Übergangsgruppen gebildet wissen. Linné mag immer noch gelächelt haben, als er erwiderte: "Ah, mein lieber Freund, der Übergang von einer Ordnung zur anderen ist ein Ding, und der Charakter einer Ordnung ist wieder ein und zwar ein ganz anderes Ding. Den Übergang kann ich wohl angeben, aber der Charakter einer natürlichen Gruppe kann von niemand angegeben werden ... Sie selbst oder ein anderer wird die Gründe für meine natürlichen Ordnungen schon finden, nach zwanzig oder vielleicht nach fünfzig Jahren, und dann wird er auch wohl sehen, dass ich recht gehabt habe." So finden wir in einem glücklich auf uns gekommenen Gespräche, was nie in einem Lehrbuche zu finden wäre: zugleich den Glauben an den Wert einer Klassifikation, das heißt eines Sprachausschnitts, und die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der Sprache und ihrer Worte. Kurz nachdem ich diese merkwürdige Äußerung Linnés gelesen hatte, hatte ich die Freude eines sehr lehrreichen Gespräches mit dem schon recht alten Virchow. Mit weit mehr historischem Sinn, als Linné ihn besitzen konnte, gab mir Virchow auf meine Frage ein Privatissimum über die Geschichte des Begriffs, den man im Altertum "Phlegma" nannte, der in der Neuzeit einmal Kolloid genannt worden ist und den er selbst ins Griechische zurückübersetzte, als er ihn als Nervenglyon wieder in die Wissenschaft einführte. Auch er zuckte die Achseln und lächelte zustimmend, als ich sagte, das sei ein Adjektiv, aber kein Substantiv; aber auch er schien lächelnd zu hoffen, dass man oder er nach zwanzig oder fünfzig Jahren wissen werde, was das Wesen des von ihm vorläufig benannten Nervenglyons eigentlich sei.

Dieses große Beispiel einer geschlossenen Sprachgruppe, Linnés Klassifikation der Pflanzen nämlich, ist ungemein bezeichnend für Wert und Unwert aller Sprache. Die französischen Naturforscher sträubten sich gegen die Künstlichkeit dieses Systems und auch unser Haller,1 weil er vor allem Physiologe war, wollte sich die äußerlich beschreibende Sprache nicht aneignen. Dennoch drang sie durch. (Es ist lehrreich, dass der modernste Kopf der Zeit, dass Rousseau das Linnésche System begeistert aufnahm. Freilich war Rousseau nebenbei ein arger Pedant, der mit unerbittlicher Konsequenz z. B. Notenköpfe abschaffte, wie später sein Schüler Robespierre Menschenköpfe.) Man mache sich nur einmal den wissenschaftlichen Wert einer solchen Klassifikation ganz klar. Für die Erkenntnis des Pflanzenlebens ist die Nomenklatur absolut wertlos: denn niemals ist auf die durch einen Namen zusammengefaßte Gruppe ein Verlaß, solange die Physiologie die natürliche Zusammengehörigkeit nicht bestätigt hat. Es kann höchstens die vorläufige Klassifikation, das heißt die Ähnlichkeit gewisser äußerer Teile dem Pflanzenphysiologen die naheliegende Aufgabe stellen, nach der organischen Ähnlichkeit zu forschen. Dann hat aber nicht der Name oder das Wort die Frage gestellt, sondern die wirkliche Ähnlichkeit der Teile. Sehr unbedeutend ist auch der Wert der Klassifikation für das Gedächtnis des einzelnen Forschers; trifft er auf eine neue oder auf eine seltene Pflanze, so wird er allerdings sofort an eine Gruppe erinnert, der er sie vorläufig zuteilen mag, aber er hat von der Vermehrung der Zahl keinen Gewinn für seine Erkenntnis, weil er doch im Grunde nur das Wörterbuch vermehrt hat, den Zettelkasten seines Gedächtnisses, höchst wahrscheinlich sogar nur den realen Zettelkasten seiner Arbeitsstube. Einen faßbaren Vorteil hat der Bau dieser Nomenklatur wirklich nur zwischen den Menschen, welche in diesem Falle Fachleute sind, so wie die Umgangssprache ihren Hauptwert zwischen den Menschen eines Volkes hat. Die künstliche Nomenklatur Linnés hat es ermöglicht, dass ein Botaniker jedesmal weiß, was gemeint ist, wenn ein anderer Botaniker eine Pflanze benennt und beschreibt; das ist fast alles.1: Haller war durchaus nicht der Pedant, als der er in den tollen, leider nicht ganz unverdienten Satiren des prächtigen Lamettrie erscheint; was er gegen die neue Terminologie einzuwenden hatte, mochte außer dem Physiologen auch der Dichter Haller diktiert haben. (Über das Verhältnis von Haller und Lamettrie vergleiche man das lesenswerte Büchlein "Die Satiren des Herrn Maschine" von E. Bergmann.)