Gravitation
Ich will diese Verbindung, die zwischen Hypothesen und Worten durch die Geschichte der Sprache oder der Welterkenntnis geht, an einem Begriffe noch klarer zu machen suchen, der mit Recht als Ausdruck gilt für die genialste mittelbare Beobachtung, die dem menschlichen Geiste gelungen ist. Ich meine wieder den Begriff der Gravitation, welcher gewöhnlich das Gesetz der Gravitation genannt wird. Wenn wir statt Gravitation Schwerkraft sagen, so verrät uns die Sprache eigentlich schon das Grundgebrechen des Begriffs. Auch das Wort Gravitation ist natürlich ein Abstraktum vom lateinischen Worte gravis (schwer); im Deutschen ist man mit dem Fetisch Kraft bei der Hand und glaubt wieder einmal die Erscheinung der Schwere besser zu verstehen, wenn man die Kraft zur Ursache der Erscheinung macht.
Gewisse Tatsachen, welche heute als Erscheinungen der Schwerkraft, und zwar als Erscheinungen des Luftgewichts bekannt sind, wurden von Aristoteles an bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein zu einer besonderen Gruppe von Ähnlichkeiten zusammengefaßt. Jedermann wußte, dass die Flüssigkeit aus einer Flasche nicht auslief, wenn man sie mit dem offenen Ende in eine Flüssigkeit steckte. Man bemerkte, dass die Wirkungen des Hebers und der Pumpe ganz ähnliche Erscheinungen darboten, und suchte nach einem sprachlichen Ausdruck. Man nahm ihn von der Hypothese, dass in der Natur eine Scheu oder ein Entsetzen vor dem leeren Raum bestehe. Man verlegte also das menschliche Gefühl der Furcht in die Flüssigkeiten hinein. Ob man sich nun bewußt war, nur eine Metapher zu bilden oder ob man diese Furcht der Flüssigkeiten wörtlich nahm, jedesfalls gab es den technischen Ausdruck horror vacui als beschreibende Bezeichnung dieser Hypothese. Solange die Hypothese geglaubt wurde, gehörte das Wort zur technischen Sprache der Mechanik und damit zur Umgangssprache der Wasserbautechniker. So sicher jeder von uns annimmt, dass ein Tier, welches er nach einigen Merkmalen einen Hund nennt, bellen werde, so sicher glaubte man, Wasser durch Verdünnung der Luft auf beliebige Höhen leiten zu können. Noch 1644 glaubte Mersenne, dass er durch einen großen Heber Wasser werde über einen hohen Berg leiten können. Diese Erscheinung ließ sich aber in Wirklichkeit nicht beobachten, das Wasser stieg niemals höher als 34 Fuß, und so kam man dazu, das Gewicht des Wassers mit einer Wirkung der Luftsäule zu vergleichen und diese Wirkung der Luft metaphorisch ihr Gewicht zu nennen. Metaphorisch, denn diese Wirkung entsprach nicht dem natürlichen Sinneseindruck eines Gewichtes in der menschlichen Hand.
Um jene Zeit waren geistreiche Mechaniker damit beschäftigt, mit Hilfe der neuen und rasch wachsenden Rechnungsmethoden die verschiedenen Erscheinungen der Statik und der Dynamik auf gemeinsame Formeln zu bringen. Man kann wohl sagen, dass es sich darum handelte, die Erscheinungen der Schwere und die der Bewegung zusammenzufassen. Was die mechanische Weltanschauung heute die Erhaltung der Energie nennt und auf Chemie, Wärme usw. ausdehnt, das war am Ende des 17. Jahrhunderts für die Mechanik im engeren Sinne unter dem Namen "Erhaltung der lebendigen Kraft" schon behauptet worden. Das erstaunliche Verdienst Newtons sollte nun darin bestehen, diese hypothetische Zusammenfassung der Bewegung und der Schwere von den irdischen Erscheinungen auf die Bewegungen der Himmelskörper auszudehnen. Die sogenannten Gesetze dieser Bewegungen hatte Kepler formuliert. Auch Kepler versuchte natürlich zu erklären, was er beschrieben hatte. Eine Ähnlichkeit zwischen Schwere und Bewegung fiel ihm aber nicht entfernt ein, und so gab er zur Erklärung Worte, die nicht einmal technische Ausdrücke werden konnten, weil ihnen eine feste Hypothese nicht zugrunde lag.
Der berühmte Descartes hatte den traurigen Mut, aus den Phantastereien Keplers eine solche bestimmte Hypothese auszulösen und mit ihrer Hilfe das Weltgebäude zu erklären, das Kepler so gut beschrieben hatte. Es ist die Hypothese der Wirbel, welche damals die gelehrte Welt eroberte, ein technischer Ausdruck wurde, in die Umgangssprache überging (ich habe sie in den Lustspielen Molières gefunden), um schließlich in die Rumpelkammer der Geistesgeschichte geworfen zu werden. Ganz gewiß hat die Angst vor der Kirche bei der Ausgestaltung dieser Theorie mitgewirkt; aber an die Wahrheit seiner Hypothese glaubte Descartes, dieser ausgezeichnete Mathematiker, während die Mechaniker in Italien, England und Holland zu gleicher Zeit der Ähnlichkeit zwischen himmlischer und irdischer Mechanik schon hart auf der Spur waren. In demselben Jahre 1644, da sein intimer Freund Mersenne zum letztenmal das Monstrum horror vacui produzieren wollte, veröffentlichte Descartes seine Wirbelhypothese, bei der der horror vacui eine große Rolle spielte. Wir haben also den beachtenswerten Fall vor uns, dass der meisterliche Beobachter Kepler die beschriebenen Planetenbewegungen gern erklärt hätte, aber keinen Ausdruck dafür fand, weil ihm kein einziger seiner phantastischen Einfälle auch nur den vollen Wert einer Hypothese zu haben schien; dass dagegen der systematischere Kopf, der Descartes war, mit der ersten der besten Erklärung, die er als Hypothese aufstellte, auch den Ausdruck Wirbel fand und einführte. Diese Hypothese und damit der Ausdruck Wirbel gewann ein solches Ansehen, dass selbst in England und bis zum Tode Newtons Descartes' Wirbel gelehrt wurden, als ob Newton nicht vorher diese Anschauung gestürzt hätte.
Newton soll das Hauptwerk Descartes' in Händen gehabt, anfangs auf jede Seite "error" an den Rand geschrieben und dann nicht weiter gelesen haben. Das ist sehr glaublich, Wenn Leibniz später die Philosophie Descartes' das Vorzimmer der "Wahrheit nannte, so hatte das nur dann einen Sinn, wenn Leibniz im Besitze der Wahrheit war. Die Geistestat Newtons war viel origineller. Und ich zögere beinahe, dieses ungeheure Ereignis vom Standpunkte der Sprachgeschichte zu betrachten.
Es lagen schon da und dort Versuche vor, himmlische und irdische Mechanik zu vergleichen. Was aber dem vierundzwanzigjährigen Newton durch den Kopf ging, das war ein verblüffendes Aperçu. Newton wußte wie alle Welt, dass und wie Körper aus der Luft auf die Erde fallen. Das geschah auch aus großer Höhe. Wie weit hinauf erstreckte sich wohl diese Anziehungskraft? Am Ende gar bis zum Monde hinauf? Ließe sich am Ende die Bewegung des Mondes ähnlich berechnen wie der Fall eines geworfenen Steines? Das Aperçu ist bewunderungswürdig. Wenn der Erfinder des Telegraphen auf den Einfall kam, es lasse sich vielleicht die Wirkung der Elektrizität von einem Zimmer ins andere, von einem Hause ins andere übertragen, so verlängerte er nur den Draht, so machte er nur einen Schritt weiter. Und wir sehen in unseren Tagen, wie die Verlängerung der Telephondrähte um ein paar hundert Meilen nur schrittweise vor sich. geht. Der Vergleich mit der drahtlosen Telegraphie wäre besser. Der Geist Newtons machte nicht einen Schritt, sondern einen Sprung, als er die Bewegung des alten Mondes da oben mit dem Falle eines geworfenen Steines verglich. So wenig sicher war Newton, dass er seine Hypothese vorläufig fallen ließ, als seine Rechnung dreizehn Fuß anstatt fünfzehn Fuß Fall in der Sekunde ergab. Hätte Newton aber auch nicht selbst noch die besseren Messungen der Geographen erlebt, hätte er nicht mehr selbst seine große Hypothese veröffentlichen können, sein Aperçu wäre dennoch die Äußerung eines Genies gewesen.
Als er nun die Hypothese ausgestaltet hatte, was lag da für die Welterkenntnis Neues vor? Wie man eines Tages in gewissen pflanzenähnlichen Meeresgeschöpfen Bewegung wahrgenommen und sie darum unter den Begriff der Tiere eingereiht hat, so fielen für Newton und seine Schüler die Bewegungen des Mondes mit denen fallender Erdkörper zusammen, und er dehnte darum den Begriff der Schwere auf die Planetenbewegungen aus. Wir haben gesehen, dass es bereits eine Metapher war, als der Begriff der Schwere auf die Luft ausgedehnt wurde. Jetzt gab es eine neue, in einer Beziehung noch kühnere Metapher. Ein Gewicht der Mondkugel oder der Sonnenkugel konnte man sich freilich handgreiflicher vorstellen als ein Gewicht der Luft; insoweit war die Ausdehnung der Schwerkraft auf die Planeten kein so kühnes Bild wie die Ausdehnung dieses Begriffs auf die Luft. Es kam aber etwas ganz Neues hinzu. Seit Menschengedenken verstand man unter dem Gewicht ungefähr den Druck des Körpers auf seine Unterlage, was wieder nur ein Bild war von dem Drucke eines Körpers auf die menschliche Hand. Mit einem anderen Bilde stellte man sich vor, die Erde ziehe die fallenden oder schweren Körper an. Nun traten plötzlich Weltkörper in den Bereich der irdischen Anziehungskraft, die ihrerseits wieder Anziehungskräfte besitzen mußten, wenn die ganze Hypothese einen Wert haben sollte.
Man mache sich den Sinn der Worte nur recht anschaulich, und man wird darüber staunen müssen, dass die Kontamination, das "Wippchen", die Konfusion der Bilder, eigentlich immer fortbesteht. Man sagt heute noch, der Fall (dessen Gesetze man so genau kennen will) sei die Bewegung eines Körpers gegen die Erde hin, und zwar sei er die Wirkung der Schwere. Nun ist aber doch der Fall eines Körpers nur eine Erscheinungsform dessen, was man bald seine Schwere, bald sein Gewicht nennt. Vielleicht wird die Sachlage noch klarer, wenn ich sage: die Schwere gilt für die Ursache des Falls, insofern man hinter der Schwere oder dem Gewicht eine besondere Naturkraft voraussetzt; personifiziert man dagegen den Fall, das heißt die Bewegung zu einer Kraft, so kann man sie ebensogut als Ursache der Schwere oder des Gewichts ansehen. Das sind keine guten Bilder, die sich ohne Schädigung des Eindrucks auf den Kopf stellen lassen. Nun aber wurde das Bild von der Schwere vollends auf den Kopf gestellt, als durch die geniale Vergleichung Newtons die Richtung des Falls zu einem Nebenumstande gemacht wurde. Schon vorher gebrauchten die Astronomen unklar die Worte Gravitation und Attraktion, um den Einfluß der Planeten im Sonnensystem zu erklären; bald dachte man an etwas wie den Magnetismus, bald an eine Emanation der Erde, welche die Körper zu sich zurückzwang. Als aber schließlich das sogenannte Gesetz der Gravitation, wonach alle Körper im geraden Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten Verhältnisse des Quadrats ihrer Entfernungen einander anziehen, aufgestellt war, da glaubte man eines der Welträtsel gelöst, eine der wichtigsten Erscheinungen des Kosmos erklärt zu haben. Und man glaubt es noch heute.
Nun verrät aber schon der sprachliche Ausdruck die neue Verlegenheit. In diesem Gesetze ist die Bewegung fallender Körper genau beschrieben und sehr schön verallgemeinert, aber immer noch wird die Gravitation durch Attraktion erklärt, und da die beiden abstrakten Worte gleich hypothetisch sind, könnte man ebensogut die Attraktion durch die Gravitation erklären. Es hängt vollkommen von der metaphorischen Phantasie des Beobachters ab, ob er die geheimnisvolle Kraft in die Attraktion oder in die Gravitation hineinversetzen will, wie es von seiner Phantasie abhing, ob der Fall die Ursache der Schwere war oder umgekehrt. Man spricht von Gravitation, wenn man so etwas wie eine Anziehung beobachtet, aber man spricht ebenso von Attraktion, wenn man so etwas wie Gravitation oder Schwere beobachtet. Alle diese Vorstellungen gehen schließlich auf den Sinnescindruck eines die Menschenhand wuchtig belastenden Körpers zurück. Und es ist für unsere Anschauung höchst lehrreich, dass Newton, als er in seinen Prinzipien (III, 4.Proposition) seine Entdeckung mitteilen wollte, dafür von dem Adjektiv gravis ein Verbum bilden mußte und sagen, der Mond gravitiere gegen die Erde. Es war statt einer Erklärung eine geniale bildliche Beschreibung.