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Dritte Figur

3. Jede Tugend ist lobenswert; jede Tugend ist nützlich; also ist einiges Nützliche lobenswert.

Was in den beiden bisherigen Fällen ausgeführt worden ist, das braucht hier nur angedeutet zu werden. Wir wissen schon, dass das Urteil "jede Tugend ist lobenswert" zitternd und formlos ist wie Gallerte, eine schwächliche Tautologie, nicht flüssig und nicht fest. Noch schlimmer steht es um den Satz "jede Tugend ist nützlich". Für wen nützlich? Für mich, für meine Familie, für mein Volk, für die lebende Menschheit, für die Entwicklung der Menschheit? Die Sache ist fraglich. Man rechnet doch Gerechtigkeit gewiß zu den Tugenden ? Und doch soll die höchste Gerechtigkeit sehr schädlich sein. Summum jus, summa injuria. Robespierre war ein tugendhafter Mann. Angenommen aber, auch wir wären uns klar über die Begriffe nützlich und Tugend, und hielten dann das Urteil aufrecht, jede Tugend sei nützlich: wie dann? Ist die Tugend nützlich, insofern sie Tugend ist oder ist ihre Nützlichkeit ein zufälliges Nebenmerkmal an ihr, etwas, was mit ihrem Wesen nichts zu tun hat? Was zu ihrer Definition nicht taugt? Dieselbe Frage müßte man sich bei dem Schlußsatze stellen. Besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der Nützlichkeit und der Löblichkeit? Besteht ein solcher Zusammenhang, so hat der Satz einen ganz anderen Sinn, als wenn ein solcher Zusammenhang nicht bestünde. Auch hier kommt es viel auf die Richtung der Aufmerksamkeit an. Der Satz "mancher Philosoph ist kahlköpfig" scheint keinen wissenswerten Inhalt zu haben. Richtete man aber seine Aufmerksamkeit auf die Ursache der Kahlköpfigkeit, dann wäre der Satz am Ende wissenswert.

Wir haben also in dem Schulbeispiel der dritten Figur erstens eine gallertartige und zweitens eine recht zweifelhafte Prämisse, und wir haben einen Schlußsatz, der erst durch die Erfahrung des Urteilenden seinen Sinn erhält.

Selbstverständlich fällt wieder keinem Menschen ein, wenn er nach der Wahrheit des Schlußsatzes gefragt würde, erst den Mittelbegriff "Tugend" heranzuholen. Auf die Frage, ob manches Nützliche lobenswert sei, wird das wirkliche Denken höchstens auf Wirklichkeitserinnerungen zurückgehen, wird z.B. die Nahrungsaufnahme, die Verdauung, die Kindererzeugung, den alltäglichen Geschäftsbetrieb usw. als nützliche Tätigkeiten an sich vorüberziehen lassen, welche die landläufige Moral nicht mit dem Prädikat lobenswert beehrt. Unabhängiges Denken wird vielleicht stutzen und darüber nachsinnen, ob der menschliche Sprachschatz nicht wieder einmal zu bereichern wäre, ob man dergleichen Tätigkeiten nicht ebenfalls lobenswert nennen könnte, ob lobenswert und nützlich nicht im letzten Grunde identische Begriffe wären. Im Banne des gewohnten Sprachschatzes aber wird der Urteilende (der darum auch ein moralischer Mensch heißt) weitere Erinnerungen an Nützliches wachrufen. Er wird z. B. die nützliche Tätigkeit der Kindererziehung und des Vaterlandsdienstes ganz gewohnheitsmäßig unter den Begriff des Lobenswerten fallen lassen und wird so beruhigt sagen: jawohl, einiges Nützliche ist schon lobenswert. Unmittelbar wird er dieses Urteil fällen; und erst später kann er auf den zusammenfassenden Gedanken kommen: Da habe ich ja gefunden, dass Tugenden nützlich sind; das ist mir vorher gar nicht eingefallen. Ob am Ende alle Tugenden nützlich sind? Dann könnte man sogar tugendhaft werden. Fragt sich nur, für wen sie nützlich sind. Und was heißt überhaupt nützlich? "Hol' der Teufel das Denken," wird er dann wohl enden, "ich werde weiter handeln, wie ich kann und muß, und mag der Pfaff an meinem Sarge sich den Kopf darüber zerbrechen, ob es tugendhaft gewesen ist oder nicht." Darum ist ja Falstaffs Monolog über die Ehre so wundervoll, weil Shakespeare da den Nominalisten Falstaff so logisch reden läßt. Wie köstlich läßt Goethe denselben Falstaff (im Fragment) fortfahren: "Der Mensch besteht aus zwei Teilen, einem vernünftigen Leib und einer unvernünftigen Seele, sage ich." Wie denn derselbe Goethe weiß: "Alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen."

Wir haben also wieder als logisch notwendiges Ergebnis im Schulbeispiel der dritten Figur einen Satz, mit dem wir nichts anzufangen wissen, der aber immerhin früher da war als seine Prämissen.