Algebra der Logik
Die Beziehungen der Begriffe im dritten und im vierten Schlußmodus hat die Algebra der Logik etwas schärfer fassen können, weil sie die Quantität der Urteile durch mathematische Zeichen besser ausdrücken konnte. Aber wie die Algebra der Grammatik (III. 258) so ist auch die Algebra der Logik ewig unfruchtbar. Nur am Schlüsse einer Geschichte der logischen Disziplin könnte ich die neue Algebra der Logik gründlich kritisieren. Hier nur einige Andeutungen.
"Alles Gescheite ist schon gedacht worden," von Goethe selbst nämlich. Was er (in der Geschichte der Farbenlehre) von dem baumeisterlichen Aristoteles sagt, das gilt von allen späteren und kleineren Baumeistern der Logik: "Er erkundigt sich nach dem Boden, aber nicht weiter, als bis er Grund rindet. Von da bis zum Mittelpunkt der Erde ist ihm das Übrige gleichgültig." Etwa zu der gleichen Zeit hat Schleiermacher das Ende der formalen Logik in seiner grüblerisch feinen Weise richtig erkannt. Er wies auf die Ähnlichkeit zwischen dem dialektischen Denken und dem Dialoge hin. ferner darauf, dass die Nationalität und die Individualität jeder Sprache die Allgemeinheit der Logik (wir fanden: ,,es gibt keine Logik, es gibt nur Logiken"), also die Allgemeinheit des Denkens einschränke. Seitdem wird namentlich in Deutschland versucht (seit Trendelenburg und besonders seit Schuppe, der diese Bewegung auf Descartes zurückführt), die Logik psychologisch zu machen und zugleich an Stelle der formalen Logik, die ich hier doch nur pietätsloser bekämpft habe als andere vor mir, eine Methodenlehre zu setzen. Unfein und gründlich hat Wundt. fein und gründlich hat Sigwart diese Arbeit geleistet. Wenn nur nicht schon der halbe Ketzer Zabarella, der Aristoteliker und Astrologe und doch sehr klug war, bereits im 16. Jahrhundert gelehrt hätte. Methode sei ein intellektueller Habitus, das heißt doch wohl eine geistige Gewohnheit. Wenn nur Methode etwas vor dem Wissen wäre. Moltke glaubte schwerlich alle Methodenlehren zu treffen, als er sagte: Strategie sei die Anwendung des gesunden Menschenverstandes auf den Krieg.
Inzwischen hat sich die neue Disziplin herausgebildet, die Algebra der Logik. Ein Mathematiker und Denker wie Leibniz glaubte noch sein Leben lang ahnungsvoll, es ließe sich durch Unterwerfung des Denkens unter den mathematischen Kalkül eine Vollendung des Wissens herstellen. Sein Traum von einer charakteristischen Universalsprache hängt gewiß mit solchen übermenschlichen Wünschen zusammen. Die ungeheuere Verstandesarbeit, welche nun seit Boole und Delboeuf, besonders durch Peirce und E. Schröder auf die Durcharbeit dieser ganz mathematischen Logik verwandt worden ist, kann keinen Zweifel darüber lassen, dass Leibniz da nur geträumt habe, dass auch die Algebra der Logik nur formale Logik sei, dass auch die Algebra der Logik keine neue Erkenntnisquelle biete.
Lotze hatte seine Logik mit dem Wunsche geschlossen, die deutsche Philosophie möge versuchen, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloß zu berechnen. Schröder, der deutsche Kalkulator der Logik, antwortet darauf (I. 105): Könnten wir ihn nur erst berechnen, dann würden wir gewiß ihn auch verstehen, "soweit überhaupt ein Verständnis auf Erden erzielbar". Der letzte Nebensatz klingt für einen Mathematiker der Logik bescheiden genug. Worin besteht aber hier der Gegensatz zwischen Lotze und Schröder? Doch nur darin, dass Lotze die abstrakten Worte der Philosophie, dass Schröder die außerhalb der Gemeinsprache liegenden mathematischen Zeichen für geeigneter hält, sich und anderen den Weltlauf klarzumachen. Es sagt also Lotze eigentlich: die Begriffe der philosophischen Sprache sind klarer als die mathematischen Begriffe; man kommt mit mathematischen Abstraktionen über die Einsichten nicht hinaus, welche durch Sprache erreichbar sind. Und Schröder antwortet eigentlich: die mathematischen Abstraktionen sind klarer als die Abstraktionen der Sprache. An einer anderen Stelle (I. 229) sieht sich jedoch Schröder zu dem Eingeständnis gezwungen, dass er in seiner Darstellung der Logik von den Freiheiten und Lizenzen der Verkehrssprache nach Möglichkeit absehen müsse, um nicht in übergroße Weitläufigkeiten verwickelt zu werden. Das heißt wohl: um die logischen Beziehungen überhaupt noch mathematisch darstellen zu können. Es geht ihm eben auch wie Stöhr bei seinen Bemühungen um die Algebra der Grammatik (vgl. wieder III. S. 258). Er versteht dabei jedoch unter Verkehrssprache nicht etwa die Gemeinsprache im Gegensatze zu dem logischen Sprachgebrauche der Philosophen; man sollte es freilich glauben, wenn er dazu den wohlweisen Rat gibt: "Es wäre überhaupt besser, wenn man sich korrekter Ausdrucksweise befleißigte." Er versteht unter der Verkehrssprache vielmehr die jeweilige Muttersprache des Logikers, deren Sprachgebrauch sich in seinen Eigentümlichkeiten und Feinheiten mit der allgemeinen Logik nicht deckt. Die Bemerkung steht im Zusammenhang einer guten, von mir übernommenen Untersuchung, nach welcher in der deutschen Sprache z. B. die scheinbar so gegensätzlichen Bindewörter "und" und "oder" in ihren Bedeutungen leicht zusammenfließen.
Nur geht es dem Mathematiker der Logik, wenn er sich verständlich machen will, ebenso wie anderen abstrakt denkenden Menschen. Aus Anschauungen sind alle Abstraktionen des Lehrers hervorgegangen, und an Anschauungen muß der Schüler erinnert werden, wenn er dem Lehrer soll folgen können. Will man einem Kinde den einfachsten Satz beibringen, so muß man ein Beispiel von unmittelbaren Sinneseindrücken nehmen. Man sagt: "Der Hund ist groß" und zeigt dabei mit den Händen einen großen Raum und dehnt wohl dazu metaphorisch das o. Will der Philosoph einen sehr abstrakten Satz "anschaulich", das heißt relativ anschaulich machen, so wählt er ein konkretes Beispiel. Will der Mathematiker der Logik seinen formelhaften Satz c a + b relativ anschaulich machen, so wählt er irgend einen Satz der Sprache, der ihm schon konkret scheint, wenn er nur in Worte gefaßt ist. Ohne solche Rückbeziehung auf die Sprache ist jeder Logikkalkül undenkbar, schon darum, weil die Zeichen in der Logik oft einen anderen Sinn haben als in der Mathematik und diese Verschiedenheiten erst durch sprachliche Beispiele klargemacht werden können.
Wenn nun die Algebra der Logik wie alles Denken zuletzt auf unmittelbaren Wahrnehmungen beruht, wenn sie zunächst und direkt auf die Sprache exemplifizieren muß, wenn es ferner eine allgemeine, aus der Logik hervorgegangene, allen Völkern verständliche Sprache oder auch nur einen gleichen logischen Unterbau für die verschiedenen Völkersprachen nicht gibt, wenn sich die Algebra der Logik also immer nur auf eine bestimmte einzelne Volksprache beziehen kann, wenn wir endlich eingesehen haben, dass die Individualsprachen der Völker von Freiheiten und Feinheiten und Eigentümlichkeiten wimmeln, das heißt dass die verschiedene Aufmerksamkeit der verschiedenen Völker den Weltkatalog nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet hat und nicht nur den Weltkatalog oder die Klassifikation der Dinge, sondern auch den Satzbau oder die Auffassung von den Beziehungen der Dinge — so werden wir begreifen, dass die Hoffnung eitel ist, mit Hilfe mathematischer Abstraktionen vom Sprachgebrauch ernsthaft über die Mängel der Sprache hinauszukommen. Gewiß: "es wäre besser, wenn man sich korrekter Ausdrucksweise befleißigte." Das kann man aber nicht über die beschränkten Grenzen der Sprachen hinaus. Wo keine Logik der Sprache ist, da hat die Algebra der Logik ihr Recht verloren. Auch J. Lüroth, ein Freund Schröders, in seinem liehevollen Nachruf für Schröder (Jahresberichte der deutschen Mathematikervereinigung XII. S. 249 f.), stellt es pietätsvoll der Zeit anheim, ob sich das Schrödersche Ideal, auf Grund seines eigenen, dem Peircesehen nachgebildeten Aussagekalküls eine allgemeine Pasigraphie zu schaffen, verwirklichen werde. Mit nachsichtiger Skepsis steht Lüroth überhaupt der Algebra der Logik gegenüber: "Was die Zukunft dieser logischen Disziplinen angeht, so glaube ich nicht, dass die enthusiastischen Hoffnungen, denen Schröder so oft Ausdruck gab, sich in Bälde erfüllen werden" (S. 262).
Dazu kommt, dass selbst mathematische Elementarbegriffe, wie die vier Spezies, dass sogar der Grundbegriff der Negation nur metaphorisch auf dem Gebiete der Logik Geltung haben können. Man verfolge einmal diese unfreiwillige Metaphorik bei Wundt (Logik 2. Aufl. I. 246 u. f.) in dem Kapitel "Der Algorithmus der Urteilsfunktionen ". Als Übung im abstrakten Denken ist die Algebra der Logik ebenso empfehlenswert wie die Ollendorfische Methode für die Einübung der Grammatik. Da ist es vielleicht nicht ohne unfreiwilligen Humor, wenn ein Geschichtsschreiber der Logik seiner ganzen Spezialwissen-schaft einen ähnlichen Nutzen zuschreibt. Es ist F. Harms, der am Ende seiner Darlegung sagt: "Die Geschichte der Logik muß jeder kennen, der sich in fruchtbarer Weise mit ihr beschäftigen will. Die Geschichte der Philosophie kann man überhaupt ansehen als die Experimentalphilosophie. Und so auch die Geschichte der Logik." Auch die Algebra der Logik lehrt nur ein Experimentieren, besser ein Exerzieren mit den Begriffen.
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