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Zweite Figur

2. Kein Laster ist lobenswert; die Beredsamkeit ist lobenswert; also ist die Beredsamkeit kein Laster.

Was ist Laster?

Es ist ein ziemlich starker Ausdruck und darum eine Temperamentsfrage, ob man die Beredsamkeit ein Laster nennen wolle, wenn man sie nicht mag. Wird die Aufmerksamkeit nicht auf diesen Punkt gerichtet, so wird nicht leicht ein Mensch so grob werden. Stellt man aber einen Bismarck oder sonst einen durchaus tätigen Menschen vor die Alternative, ob die Beredsamkeit ein Laster sei oder nicht, so wird er sich wohl am Ende aus Ärger für ja entscheiden. Ich will zugeben, dass man auch urteilen könne, die Beredsamkeit sei kein Laster. Nur um die Notwendigkeit des Satzes ist es doch wohl schwach bestellt.

Denn wieder wird, wer den Schlußsatz als seine Meinung vertritt, dazu nicht auf logischem Wege gekommen sein. Diesmal ist "lobenswert" der Mittelbegriff. Wieder lehrt die einfache Selbstbeobachtung, dass kein Mensch diesen Mittelbegriff zur Entscheidung der Frage nötig habe. Dieses ganze Beispiel der zweiten Figur ist schon darum ein richtiges Schulbeispiel, weil im wirklichen Geistesleben der Menschheit vielleicht noch niemals jemand weder auf den Obersatz noch auf die Frage nach dem Schlußsatz verfallen ist. "Kein Laster ist lobenswert," das ist so eine rechte Hilfslinie, die außer in der Logik nicht vorkommt, so wenig wie in dem Denker: außer der Schule der Satz "keine Ungrade ist grade". Im Untersatz dagegen läge der Schlußsatz ganz sicher schon drin, wenn er nur nicht zu dumm wäre, als dass man so leicht an ihn dächte. Wer den Untersatz "die Beredsamkeit ist lobenswert" etwa denken sollte, der denkt ihn nur deshalb, weil er so ungefähr der Meinung ist, Beredsamkeit sei was Gutes, nichts Schlechtes, was doch noch viel mehr sagt, als der bloße Schlußsatz "die Beredsamkeit sei kein Laster". Dieser Schlußsatz ist ein Minimum, bis zu welchem das menschliche Denken kaum ohne besonderen Anlaß hinabsinkt. Wird es aber auf dieses Minimum durch eine dumme Frage gestoßen, so richtet das menschliche Gehirn seine Aufmerksamkeit eben wieder auf seine Erinnerung oder Erfahrung, und wenn es gewohnt ist oder Veranlassung hat, der Beredsamkeit freundlich zu gedenken, so wird es zum mindesten den Schlußsatz "die Beredsamkeit ist kein Laster" aussprechen und die Prämisse "die Beredsamkeit ist (sogar) lobenswert" eben nur darum, weil der Schlußsatz gar zu wenig sagte.

Wir haben also wieder erfahren, dass der Schlußsatz. der mit logischer Gewißheit aus dem Schulbeispiel der zweiten Figur hervorgeht, erstens falsch, beziehungsweise eine Kinderei ist und zweitens — wenn er überhaupt durch eine Schülerfrage hervorgerufen wird — seinen Prämissen vorausgeht.

Ich möchte aber jetzt noch etwas hinzufügen, was für beide Figuren wichtig ist.

Was ist Beredsamkeit? Was ist Tugend? Was ist Laster? Die Logiker sind geborene Sophisten und werden mich sofort bei diesen Fragen zu fassen suchen. Die Notwendigkeit, die Beweiskraft aller logischen Schlüsse setze höchst klare und deutliche Begriffe voraus. Das Fließende und Unbestimmte meiner Gehirnvorgänge komme eben nur daher, dass ich von Beredsamkeit, Tugend und Laster keine festen Definitionen bei mir trage, dass ich ein Skeptiker oder Gott weiß was sei. Sie — die Logiker — besäßen mustergültige Definitionen der Begriffe und darum gehe aus ihren Schlußfolgerungen alles mit Notwendigkeit hervor, wie am Schnürchen.

Darauf habe ich zu erwidern, dass ich im allgemeinen alle Begriffe für mehr oder weniger fließend halte und den Schulmeistern einfach nicht glaube, die sich des Besitzes von todsicheren Definitionen rühmen. Aber es hälfe ihnen nichts, auch wenn sie sie besäßen. Denn Definitionen sind jeder Frage gegenüber nur leere Rahmen. In dem Augenblick der Besinnung auf die Bedeutung eines Begriffs wird das ehrliche Denken über die Definition hinaus auf die Begriffsbildung zurückgehen, die psychologisch identisch ist mit der Definitionsbildung. Das ehrliche Denken wird sich auf seine Lebenserfahrung besinnen, auf seine Erinnerung, und so wird eben das geschehen, was ich bei beiden obigen Figuren behauptet habe: das menschliche Gehirn wird den Schlußsatz. soweit er als eine Frage vorliegt, nicht mittelbar aus allgemeinen Prämissen heraus, sondern unmittelbar aus seiner Erinnerung oder Erfahrung heraus beantworten.

Und genauer bemerken wir den lächerlichen Nebenumstand, dass der Schlußsatz, der angeblich durch logische Arbeit, also später in der Zeitfolge, aus der Schlußfolgerung, das heißt aus der Verknüpfung der Prämissen hervorgehen soll, beinahe eingestandenermaßen in der Form der Frage allem vorausgeht. Denn so gottverlassen sind doch selbst die Logiker nicht, dass sie die logische Denkoperation wie das Experimentieren eines Sudelkochs betrachten, der allerlei zufällige Dinge in einen Topf zusammenwirft, ohne eine Ahnung davon, was dabei herauskommen wird.