Schluß und Sprachgebrauch
Zuerst in einer allgemeinen Betrachtung. Es kann nämlich erstens der Mittelbegriff wirklich so zwischen Subjekt und Prädikat des Schlußsatzes stehen, dass er das Prädikat des ersten und das Subjekt des zweiten ist, er kann zweitens eine Tautologie zum Subjekt des Schlußsatzes, er kann drittens eine Tautologie zum Prädikat des Schlußsatzes bilden, und er . kann viertens mit dem Subjekt und Prädikat des Schlußsatzes zu einer Tautologie zusammenfallen. Ich muß, will ich ein Beispiel geben, allerdings die Weltanschauungen verschiedener Menschen zu Hilfe nehmen.
a) Alle Menschen sind Organismen; alle Organismen sind sterblich; also sind alle Menschen sterblich.
b) Alle Menschen sind lebendige Menschen; alle lebendigen Menschen sind sterblich; also sind alle Menschen sterblich.
c) Alle Menschen sind endliche Wesen; alle endlichen Wesen sind sterblich; also sind alle Menschen sterblich.
d) Alle Menschen sind Staubgeborene; alle Staubgeborenen sind sterblich; also sind alle Menschen sterblich.
Um mein Beispiel klar zu verstehen, muß man sich vorstellen, dass der erste Syllogismus z. B. von einem Naturforscher gemacht wäre, dem man entgegengehalten hat, dass Barbarossa nach der Legende immer noch lebe, und der die Möglichkeit dieser Annahme entkräften will. Der zweite Syllogismus soll von einem Soldaten gemacht worden sein, dem ein Gespenst um Mitternacht entgegentritt und der sich's zum Bewußtsein bringen will, dass alle Menschen lebendige Menschen seien, dass es keine gespenstischen Menschen gebe, dass also auch sein Gespenst einen Pistolenschuß fühlen werde. Der dritte Syllogismus ist von einem Theologen gemacht worden, der an unendliche Wesen glaubt und der sich oder anderen den Unterschied zwischen den Menschen und solchen unendlichen Wesen klarmachen will, um nachher meinetwegen die Unsterblichkeit nach dem Tode zu behaupten. Der vierte Syllogismus, der freilich der Gipfel der Tautologie ist. wird wohl kaum anders als von einem Dichter vollzogen worden sein, der sich aus irgendwelchem Grunde die Bedeutung seiner Phrase "die sterblichen Menschen" klarmachen wollte. (Doch finde ich diesen Gipfel der Tautologie auch als mathematisches Schulbeispiel, wenn geschlossen wird: alle Dreiecke mit entsprechenden Seitenverhältnissen sind Dreiecke mit entsprechenden Winkeln; alle Dreiecke mit entsprechenden Winkeln sind ähnliche Dreiecke; folglich sind alle Dreiecke mit entsprechenden Seitenverhältnissen ähnliche Dreiecke.)
Nun wird mir jeder Mensch mit gesundem Takte zugestehen müssen, dass der Naturforscher, der Soldat, der Theologe und der Dichter sich bei dem Schlußsatze "alle Menschen sind sterblich" durchaus nicht dasselbe vorgestellt haben. Je nachdem der Mittelbegriff die eine oder die andere Tautologie war, je nachdem er ein wirkliches Merkmal war oder gar nach oben und unten die gleiche Tautologie, wird der Schlußsatz etwas Anderes bedeuten. Man denke sich den Satz "alle Menschen sind sterblich" im Zusammenhang einer Rede, und der Naturforscher, der Soldat, der Theologe und der Dichter werden diesen Satz unmöglich in gleichem Zusammenhange gebrauchen können. Schon die nächste "Folgerung" aus dem gleichen Schlußsatze wird in jedem Falle eine andere sein.
Der Naturforscher wird folgern: alle Menschen sind sterblich, also sind die bergentrückten Helden wie Barbarossa nur Geschöpfe der Sage. Der Soldat wird folgern: alle Menschen sind sterblich, also will ich mich vor diesem vermeintlichen Gespenst nicht fürchten. Der Theologe wird folgern: alle Menschen sind sterblich, also muß die ewige Seele in uns etwas Übermenschliches sein. Der Dichter wird folgern: alle Menschen sind sterblich, also ist sterblich ein gutes Epitheton ornans für den Menschen.
Es gehört nur eine volle Aufmerksamkeit dazu, um sich zu überzeugen, dass der verschiedene Sinn eines Schlußsatzes oder eines Satzes überhaupt nicht ein Ausnahmefall ist, sondern die unbedingte Regel, sobald man nur die feinen Nuancen als Unterschiede empfinden gelernt hat. Es gibt unter dem Mikroskop keine absolut gerade Linie. Und es gibt für unsere Kritik nicht zwei Menschen, die sich bei demselben Satze genau das gleiche denken.
Ich habe diese traurige Wahrheit selbst in eine Schablone gebracht, um zu zeigen, dass die verschiedenen Beziehungen des Mittelbegriffs zu Subjekt und Prädikat des Schlußsatzes den Sinn des Schlußsatzes beeinflussen und dass diese Beziehungen sich in große Gruppen einteilen lassen. Es wäre aber falsch, nun zu glauben, ich hätte die Logik da scharfsinnig bereichert und der erste Schlußmodus der ersten Figur müßte nur in vier Unterarten eingeteilt werden, um durch die Form des Schlußsatzes auch seinen besonderen Sinn zu verraten. Der Spaß ließe sich machen, man brauchte "Barbara" nur zu deklinieren. Da hätten wir 4 Fälle und gleich Namen für sie. Übrigens ist (ohne meine Deutung auf den Sinn) die vierfache Möglichkeit in der Beziehung des Mittelbegriffs schon längst bemerkt worden.
Der Sinn des Schlußsatzes wird sich aber aus der bloßen Schlußoperation nie und nimmer ergeben, weil wir ja eben nicht in diesen Schlußoperationen denken, sondern in Begriffen. Nie und nimmer wird eine noch so subtile Einteilung für die unendlich vielen Abstufungen hinreichen können, in denen unsere wirkliche Erinnerung die Merkmale ihrer Begriffe oder Worte verbindet.
Nun könnte aber ein Logiker, der der Belehrung zugänglich wäre, auf meinen Gedankengang eingehen und mir einen scheinbaren Einwand machen. Wenn der verschiedene Sinn des Schlußsatzes aus den verschiedenen Beziehungen des Mittelbegriffs hervorginge, dann wäre allerdings die Logik verantwortlich zu machen; denn im Schlußsatze sei der Mittelbegriff verschwunden, man könne dem Schlußsatze also die Abenteuer des zurückgelegten Weges nicht mehr ansehen. Aber in allen meinen vier Beispielen sei bereits der Sinn des Begriffs Mensch verschieden, ebenso der Sinn des Begriffs sterblich. Jeder von meinen vier Männern habe seine besondere Weltanschauung, seinen Sprachgebrauch und würde die Begriffe "Mensch" und "sterblich" von vornherein verschieden definiert haben. Die Logik kümmere sich aber nur um die Form des Denkens, nicht um seinen Inhalt. Die Logik sei nur verantwortlich für die Form des Schlußsatzes "alle Menschen sind sterblich". Was sich der Einzelne dabei vorstelle, das sei seine eigene Sache.
Mir scheint, dass dieser Einwand nichts weiter wäre als eine völlige Unterwerfung unter meinen Gedanken. Denn die Form oder Hülse will ich den Logikern gern überlassen, wenn sie mir nur zugeben, dass Urteil und Schlußfolgerung bereits im Begriff oder Wort enthalten sei. Was mein idealer, der Belehrung zugänglicher Logiker mir eben entgegengehalten hat, das beweist mir, dass er bei allem guten Willen doch nicht imstande ist, die ganze Wahrheit zu begreifen. Denn er hält den Mittelbegriff immer noch für eine Hilfskonstruktion des Denkens, für einen dritten fremden Begriff, den die Denkoperation aus irgend einer geheimen Schatzkammer freiwillig hinzutue, um Subjekt und Prädikat des Schlußsatzes regelrecht verbinden zu können. Das ist aber nicht wahr.