Logik und Erkenntnistheorie
Wer aber diese Vorgänge in unserem Gehirn immer noch logische Denkoperationen nennen wollte, der müßte jede Sinneswahrnehmung, jede ohne Ausnahme, eine logische Denkoperation nennen. Die neuere Psychologie hat gar keinen Zweifel darüber gelassen, dass unsere Sinneswahrnehmungen unmittelbar gar keine Nachrichten von der Außenwelt geben. Beim Sehen und Hören vollziehen sich mechanische oder chemische Veränderungen an den Endpunkten des Sehnervs oder des Hörnervs, mechanische Wirkungen, die an sich jedenfalls höchst verschieden sind von dem, was wir nachher als besondere Farben oder Töne wahrnehmen. Die neuere Psychologie ist sich auch darum ganz klar darüber, dass auch das einfachste Wahrnehmen einer Farbe oder eines Tons nicht auf der Netzhaut oder im Gehörgang vollendet wird, sondern erst in der Zentrale des Gehirns. Man hat das so ausgedrückt, dass auch unsere Sinneswahrnehmungen intellektuell seien. Es ist das große Rätsel der Psychologie, dass die Außenwelt auf diese Weise in uns zu Sinneswahrnehmungen werde, und es ist die große Frage aller Philosophie, was denn eigentlich diese Außenwelt in Beziehung auf unsere Sinneswahrnehmungen sei. Das Wort "Ding-an-sich" ist nur eine neue Formulierung der Frage, nicht eine Antwort. Und die Annahme, dass z. B. Schwingungen nicht nur auf den Sehnerv wirken, sondern sich auch irgendwo in Farbenempfindungen unisetzen, ist nur eine Verdoppelung des Rätsels, nicht seine Lösung. Niemand wird sich vermessen, dieses Rätsel und diese Frage lösen zu wollen. Eins aber scheint mir gewiß, dass es überaus lächerlich wäre, diesen Geheimnissen mit den Formeln der logischen Schlußfolgerung näher treten zu wollen. Ein solches Wahrnehmen der Außenwelt durch sein Zentralnervensystem, also ein intellektuelles Wahrnehmen, besitzt schon das niederste Tier. Ich glaube nicht, dass ein Logiker dem Infusorium logische Denkoperationen zuschreiben wird, weil es geeignete Nahrung wahrnehmen und seine Bewegungen danach einrichten kann. Ein Kopf von so scholastischem Scharfsinn wie Schopenhauer hat denn auch schon, nach dem Stande der damaligen Physiologie, sehr entschieden die Intellektualität aller Sinneswahrnehmungen ausgesprochen, aber sich wohl gehütet, diese Intellektualität mit dem menschlichen Denken gleichzusetzen. Er hat (was sprachlich ganz brauchbar ist) zwei Gottheiten im menschlichen Gehirn angenommen, den Verstand und die Vernunft. Die Vernunft besorgt bei ihm das eigentliche Denken, das logische Denken in Begriffen, also das Sprechen; der Verstand besorgt — ohne Worte und Begriffe, also ohne Sprechen oder Denken — die Auffassung der Außenwelt nach Maßgabe der Mitteilungen unserer Sinne. Ich habe gar nichts dagegen, dass einem mythologischen Begriffe "Verstand" dieses ganze große Ressort zugewiesen werde, solange man sich nur darüber klar ist, dass dieses besondere Seelenvermögen eben nur eine bequeme Abstraktion ist und nichts Wirkliches. Unter allen Umständen aber hat dieser Verstand oder was immer dabei tätig ist, mit der Logik nicht das Mindeste zu schaffen. Wir aber werden jetzt einsehen, dass zwischen dem alltäglichen Wahrnehmen der Außenwelt durch die mechanischen Veränderungen in den Nervenenden unserer Sinnesorgane einerseits und zwischen der Wahrnehmung des Neptun durch seine sichtbaren Wirkungen auf die Bahn des Uranus kein grundsätzlicher Unterschied besteht.
Ich hoffe, dass wir durch diese schwierige Darlegung etwas gewonnen haben. Wir hatten früher gesehen, dass die sogenannten Schlußfolgerungen der formalen Logik durchaus wertlos sind, dass sie zu keinen neuen Ergebnissen führen, sondern nur Bekanntes in Erinnerung bringen. Wir haben jetzt, wie ich hoffe, dazu erfahren, dass es auch neben der formalen Logik eine Reallogik nicht gibt, weil der Realgrund der Wahrheit niemals in unser Erkennen eingeht. Was wir in unserer Sprache oder in unserem Denken eine Verknüpfung von Ursache und Wirkung nennen, ist ebenfalls immer nur eine Erinnerung an Regelmäßigkeiten, deren innerster Zusammenhang uns ewig unbekannt bleiben wird. Wüßten wir die Wahrheit, wüßten wir die letzten Ursachen der Wirklichkeitswelt, dann besäßen wir mit der Erkenntnis der Ursachketten in unserem Erinnern oder Denken auch eine Verknüpfung. Dann aber würden wir wahrhaftig unser Wissen nicht logisch nennen; denn dann fiele Denken und Wirklichkeit zusammen, und die Logik würde aufs neue überflüssig. In unserem Stande der Unwissenheit jedoch kennen wir die letzten Ursachen nicht, kennen wir kein wahres Naturgesetz, und die Schlüsse, welche wir aus den verhältnismäßig kleinlichen Formeln ziehen, die wir in unserer Armut schon Naturgesetze nennen, drehen sich ewig im Kreise herum und beweisen immer nur das, was von Anfang an die Grundlage des Beweises war.
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