Erste Figur
1. Jede Tugend ist lobenswert; die Beredsamkeit ist eine Tugend; also ist die Beredsamkeit lobenswert.
Wir bemerken zunächst, dass der Obersatz ein recht schwaches tautologisches Urteil ist. Ob wir sagen, irgend etwas sei eine Tugend, oder es sei lobenswert, das ist doch eigentlich ein und dasselbe. In unserem wirklichen Denken gibt es eben zwei W'orte für diesen einen sehr unklaren Begriff; und die Urteile "jede Tugend ist lobenswert" und "alles Lobenswerte ist Tugend" sind beide gleich gut und gleich nichtssagend. Was bedeutet aber die zweite Prämisse: "die Beredsamkeit ist eine Tugend"? Offenbar geht doch im Gehirn des Redenden der Schlußsatz voraus: "die Beredsamkeit ist lobenswert". Wer dieses Schlußurteil nicht vorher gefällt hat, wer die Beredsamkeit für unnütz oder gar für schädlich hält, dem wird nicht einfallen, die Beredsamkeit eine Tugend zu nennen. Ein Bismarck wäre in ein grimmiges Gelächter ausgebrochen, wenn man ihn gefragt hätte, ob er die Beredsamkeit der Abgeordneten für lobenswert, für eine Tugend halte. Aber auch er wird nicht logisch verfahren; er wird der Beredsamkeit das Prädikat lobenswert nicht darum absprechen. weil sie keine Tugend sei; sondern umgekehrt wird er das Prädikat Tugend ablehnen, weil er nichts Lobenswertes an ihr findet. Der Schlußsatz geht den Prämissen voraus. Der Schlußsatz ist das Älteste an dem ganzen Gedankengang; es kann also in ihm nichts Neues erschlossen worden sein.
Ist also der Wert der ersten Figur in diesem Schulbeispiel gleich Null, so fragt es sich noch, ob doch wenigstens die Besinnung auf die Möglichkeit des Urteils "die Beredsamkeit ist lobenswert" im Gehirn so syllogistisch vor sich gehe. Und das leugne ich entschieden. Eine einfache Selbstbeobachtung belehrt uns eines Besseren.
Man werfe in verständiger Gesellschaft die Frage auf, ob Beredsamkeit lobenswert sei. Die meisten werden den notwendigen Schulschluß aus dem erhabenen Tugendbegriff gar nicht für Notwendigkeit halten, sondern aus ihrer Lebenserfahrung heraus und je nach ihrer Lebhaftigkeit etwa antworten: bewahre, die Beredsamkeit ist etwas recht Schlimmes! oder: die Beredsamkeit kann ihre Vorzüge haben, relativ. sie kann ihrem Besitzer zu Einfluß verhelfen, zu einer Aufsichtsratstelle, zu der Präsidentschaft eines Bezirksvereins oder zu einem Ministerposten. Was ist: lobenswert? Ein relativer Begriff. — Aber auch von denjenigen, welche die Löblichkeit der Beredsamkeit zugeben, wird kein einziger auf dem Wege des Syllogismus zu diesem Urteil gelangen.
Kein einziger wird den Mittelbegriff "Tugend" aufzusuchen eine Veranlassung haben. Ganz ohne Logik wird diese Partei den Begriff "lobenswert" festhalten, das heißt die Erinnerung an die Merkmale dieses Begriffs, eigentlich aber nur die Erinnerung an die Stimmung dieses Begriffs. Lobenswert, das ist was Schönes, was mir gefällt, wozu ich ja zu sagen pflege. Ob Beredsamkeit lobenswert sei? Nicht im Traum, nicht im verstecktesten Wfnkel des Unbewußten wird der Gefragte sich selbst die Zwischenfrage vorlegen, ob Beredsamkeit eine Tugend sei. Unmittelbar wird er nach seiner eigenen Lebenserfahrung, also nur nach seiner Erinnerung (das heißt also nur nach seinem Sprachgebrauch), die Beredsamkeit mit dem Begriff des Lobenswerten, dessen, was ihm gefällt, vergleichen und wird unmittelbar antworten: jawohl, warum denn nicht?
Zwei Fälle sind möglich. Entweder er hat schon vorher einmal verglichen oder er hat die Vergleichung anderer mit dem Worte zugleich aufgenommen, er verbindet mit dem Begriff der Beredsamkeit ohnehin schon etwas Lobenswertes, und dann wird sein Satz "die Beredsamkeit ist lobenswert" nur ein apriorisches Urteil sein, das nicht nur in der künstlichen Prämisse "die Beredsamkeit ist eine Tugend" schon drinsteckte, sondern bereits im Begriff "Beredsamkeit". Oder aber er hört oder beachtet die Frage nach der Löblichkeit zum erstenmal, und dann wird er je nach seinem Charakter von jetzt ab mit dem Begriff Beredsamkeit eine freundliche Stimmung verbinden oder nicht. Das ist der wirkliche Vorgang im Gehirn, soweit er sich in unverschulten Worten ausdrücken läßt.
Wir haben also erfahren, dass der Schlußsatz, der mit absoluter logischer Gewißheit aus dem Schulbeispiel der ersten Figur hervorgeht, erstens falsch oder ungewiß ist und zweitens — sofern er überhaupt gedacht wird — seinen Prämissen vorausgeht.