Entdeckung des Neptun
Betrachten wir aber die Entdeckung des Neptun mit Hilfe logischer Schlüsse aus dem Gravitationsgesetz noch ein bißchen genauer. Von allen Rechnungen abgesehen verlief doch die Sache folgendermaßen. Die Newtonsche Hypothese von der Identität der irdischen Schwerkraft und der himmlischen Anziehung wurde allgemein für richtig angenommen und täglich neu bestätigt. Sie gestattete nützliche Anwendungen für den Kalender und anderes, so wie die altbekannten Gesetze der irdischen Schwerkraft nützliche Anwendungen z. B. für die Artillerie gestatteten. Diese Anwendungen haben mit der Logik nichts zu tun. Logisch und wissenschaftlich aber schloß man:
alle Planeten gehorchen den Gesetzen ihrer Schwerkraft
der Uranus ist ein Planet
also muß der Uranus den Gesetzen seiner Schwerkraft gehorchen.
Die Astronomie hörte nicht auf, solche Schlüsse und auf sie gestützte Berechnungen bei allen Planeten vorzunehmen. Die Hypothese des Gravitationsgesetzes war ursprünglich doch nur ein Aperçu, welches Newton von einem einzigen Falle, der Beschleunigung des Mondes nach der Erde zu, gemacht hatte. Selbstverständlich eines der genialsten Aperçus der Kulturgeschichte. Dieses Aperçu oder diese Hypothese wurde durch die Beobachtungen an den Planeten immer wahrscheinlicher. Es war, theoretisch gesprochen, der ganz gewöhnliche Weg der Urteilsbildung durch Induktion. Das Urteil, welches heute noch Gravitationsgesetz genannt wird und welches in künftiger Zeit einmal zu einer Formel neben anderen werden wird, ist ein wertvolles, aposteriorisches Urteil, es erklärt uns höchst wahrscheinlich einen richtigen Begriff, den der Anziehung der Körper, und soll in seiner Bedeutung wahrhaftig nicht unterschätzt werden. Wie aber kommt es dazu, dass uns ein Begriff etwas Neues erschlossen haben kann? dass man mit Hilfe der Gravitationsprämissen zu den bisher bekannten Planeten einen neuen, eben den Neptun, hinzu erschließen, logisch erschließen konnte? Wie ist das möglich? Wir behaupten ja, es könne nie und nimmer etwas erschlossen werden durch Schließen? Es war möglich; aber die Logik hatte mit diesem "Schließen" nichts zu schaffen.
Nicht wahr ist es nämlich, dass wir zu der Kenntnis des Neuen, der Existenz des Neptun, auf logischem Wege gelangt sind. Der eben vollzogene Schluß hat uns nur gelehrt, dass der Planet Uranus dem Gravitationsgesetz unterliege — notabene nur für den Fall, dass das Gravitationsgesetz wirklich für alle Planeten gelte, also auch für den Uranus schon nachgewiesen sei. Solange wir so logisch weiterdenken, kommen wir aus den Tautologien nie heraus. Die Hypothese oder die Induktion des Gravitationsgesetzes wird nur durch jede neue übereinstimmende Beobachtung wahrscheinlicher. Sie war schon in hohem Grade wahrscheinlich, sie war also für die Praxis eine wissenschaftliche Gewißheit, als die neue Beobachtung hinzukam, dass die Bahn des Uranus den Bedingungen nicht entspreche. Mit der bloßen Logik hätte daraus geschlossen werden müssen, dass das Gravitationsgesetz also eigentlich eine falsche Hypothese sei. Dieser Schluß wäre freilich ebenso töricht gewesen, wie es töricht gewesen wäre, etwa nach der Entdeckung Amerikas zu sagen: es gibt keine Erde, weil unsere bisherigen Vorstellungen von der Erde bereichert, geändert worden sind.
Die Astronomen waren nicht so töricht. Als sie mit Hilfe ihrer künstlichen Werkzeuge die Störungen in der Planetenbahn des Uranus wahrnahmen, sahen sie eben nur etwas Neues, was das bisherige Planetensystem, was der bisherige Begriff "Planet" noch nicht enthielt. Was war geschehen? Sie hatten einen neuen Planeten wahrgenommen. Noch nicht auf dem geraden Wege, wie ein alter Schäfer die Sterne sieht, sondern indirekt durch seine Wirkung auf den Uranus, die man mit Hilfe der künstlichen Augen gemessen hatte. Nicht die Logik hatte den Neptun erschlossen, sondern unsere alten zuverlässigen Sinne hatten ihn wahrgenommen, wenn auch indirekt. Das mag der alte Schäfer anstaunen, der von Fernrohren und von astronomischen Berechnungen nichts weiß, unserer Denkgewohnheit aber sollte solches indirekte Wahrnehmen geläufig sein.
Wenn man jede indirekte Wahrnehmung einen logischen Schluß nennen wollte, so müßte man unser alltägliches Sehen ebenfalls eine logische Tätigkeit nennen; und damit komme ich zum Kernpunkt der Frage, ob es außer der preisgegebenen formalen Logik doch eine besondere wertvolle Reallogik gebe? Auf das alltägliche Sehen will ich sofort zurückkommen.
Indirekt sehen wir die Sterne durch das Fernrohr immer. Denn wir nehmen nicht ihre unmittelbare Wirkung auf unsere Netzhaut wahr, sondern regelmäßig erst die Veränderungen dieser Wirkung, die durch linsen oder Spiegel erfolgt sind. Auf den von Planeten aufgenommenen Photographien sehen wir die Punkte unseres Sehapparates (die Scheibchen des Fernrohres) gar als Striche, die sich analysieren lassen. Erst durch Berechnungen, die den Astronomen allerdings zur Gewohnheit geworden sind wie uns das alltägliche Sehen, wird nach Richtung und Stärke die natürliche Wirkung auf unsere Netzhaut gewonnen. Gibt es aber einen Menschen, der das Sehen durchs Fernrohr (oder durch das Mikroskop, das Opernglas, die Brille) eine logische Operation nennen möchte?