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Satz des Widerspruchs

2. Der Satz des Widerspruchs lautet gewöhnlich so: zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile (z. B. Schulze ist tot — Schulze ist nicht tot) können unmöglich beide wahr sein; aus der Wahrheit des einen folgt mit bekannter logischer Notwendigkeit die Falschheit des anderen.

Hier ist nun schon der Name des Satzes ein heiterer Beweis für die Hilflosigkeit seiner Erfinder. Der Grundsatz des Widerspruchs will doch offenbar besagen, dass zwischen Urteilen, die beide gelten sollen, kein Widerspruch, kein kontradiktorischer Gegensatz bestehen dürfe. Es ist also um seine Bezeichnung ähnlich bestellt, wie wenn die ehrlichen Leute, die Logiker der Moral, das Prinzip ihres Handelns einen "Grundsatz des Stehlens" nennen wollten. Und die Logiker des Denkens haben auch gewiß ihren Grundsatz des logischen Stehlens, den Satz des Widerspruchs, nur deshalb so verkehrt aufgestellt, weil sein gerader und natürlicher Name "Grundsatz der Übereinstimmung" hätte lauten müssen, also mit dem Satz der Identität identisch gewesen wäre. In Wahrheit verlangt der Satz der Identität, dass Ein Satz tautologisch sein müsse, damit man ihn denken oder aussprechen könne; nach dem Satz des Widerspruchs aber müssen zwei Sätze tautologisch sein, damit man sie zusammen (vielleicht auch nur bald nacheinander) denken oder aussprechen könne.

Aber sowohl die Erklärung des Satzes vom Widerspruch als sein Beweis richten ihre Aufmerksamkeit auf die Wahrheit der Urteile; und wir wissen bereits, dass die Wahrheit der Sätze nur eine sprachliche Auseinanderbreitung ist von richtigen Begriffen und dass die Richtigkeit der Begriffe ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist, also das, was zu ihnen gehört, wie die Existenz zur Welt. So führt der Satz des Widerspruchs, weil er recht eigentlich nach der Wahrheit fragt, sofort noch energischer als der der Identität aus dem logischen Gedankenkreise heraus, so wie er das Gebiet alberner Tautologien verlassen will. Weil er nun noch emsiger nach der Wahrheit fragt, hat man ihn auch so formuliert, dass er verbiete, auf eine und dieselbe Frage zugleich mit ja und mit nein zu antworten.

Nun lehrt uns aber die tägliche Erfahrung, dass nicht nur im gedankenlosen Tagesgeschwätz Ja und Nein gleichwertige Antworten auf dieselben Fragen sind, sondern dass auch in den tiefsten wissenschaftlichen Untersuchungen die Fachmänner selbst einander widersprechen. Alle sogenannten Zeitfragen haben die Eigentümlichkeit, dass sie mit ja und mit nein beantwortet werden können. Sind die Bazillen die Erreger der betreffenden Krankheit? Ja und nein. Weiß die Sozialdemokratie, was sie will? Ja und nein. Läßt die Physiologie eine besondere Lebenskraft gelten? Ja und nein. Ich sehe von den Fällen ab, wo verschiedene Forscher die Frage verschieden beantworten. Ich habe solche Fälle im Auge, wo nur vorlauter Parteigeist mit ja oder nein antwortet, während der vorsichtige Denker sein Schwanken ganz gut so ausdrücken kann, dass er ja und nein zugleich antwortet, also zwischen zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen beide für wahr erklärt, also dem Satz vom Widerspruch entgegen handelt, gerade wenn er schärfer denkt als andere.

Und zu alledem halte man, was wir erfahren haben: dass es Widerspruch (II. 48) überall einzig und allein nur in der Sprache geben kann.