Satz vom Grunde
Man nennt den Begriff der Notwendigkeit gern noch heute scholastisch den Satz vom Grunde oder noch schulmeisterlicher : den Satz vom zureichenden Grunde. Über die Formulierung dieses Satzes ist man nicht einig geworden, obwohl über seinen Sinn (soweit er das Verhältnis von Ursache und Wirkung betrifft) kaum ein ernstlicher Zweifel besteht. In seiner weitesten Fassung ("Nichts ist ohne einen Grund, warum es sei") erinnert mich der Satz vom zureichenden Grunde lebhaft an die unfreiwillige Komik von Kants oberstem Moralprinzip. Wie da die feierliche Tautologie "Erwähle dir zum obersten Grundsatz, was oberster Grundsatz zu sein verdient" — in verblüffende Form gebracht ist, so antwortet der Satz vom zureichenden Grunde auf die Frage: "Warum fragen wir immer warum?" mit der billigen Weisheit: "Weil wir immer warum fragen müssen". Hier wie dort ist die Notwendigkeit in einem "Sollen" versteckt. Beachten wir freilich, dass der allgemeinste Ausdruck für wirkliches Geschehen etwa der Begriff "Veränderung" ist, so wird der Satz "Keine Veränderung geschieht ohne Grund" auf die Selbstverständlichkeit hinauslaufen, als die wir das sogenannte Gesetz der Trägheit erkennen müssen. Und verlangen wir gar für jede Änderung einen gleichwertigen, einen zureichenden Grund, so stehen wir vor einer neuen Fassung derjenigen Formulierung der Trägheit, die seit 50 Jahren die Erhaltung der Energie genannt wird. Der Satz vom zureichenden Grunde des Geschehens ist also die sprachliche Auseinanderbreituug des Begriffs Ursache.
Dabei ist es durchaus nicht gleichgültig, dass wir uns diesen Begriff vorstellen und die Selbstverständlichkeit auch aussprechen. Er ist ja eigentlich eine Negation des alten Dämonen- und Götter- und Wunderglaubens; solange die Menschen persönliche Ursachen hinter allem Geschehen suchten, solange konnte der Naturlauf — weil willkürlichen Einflüssen ausgesetzt — nicht notwendig, nicht berechenbar sein. Der Satz vom zureichenden Grunde des Geschehens lehrt also, im Gegensatze zu allem Fetischismus, dass es in der Natur natürlich zugehe.
Man hat sich aber seit jeher nicht damit begnügen wollen, den Satz vom zureichenden Grunde auf das Geschehen allein, auf Ursache und Wirkung allein anzuwenden. Schon im Mittelalter unterschied man allerlei Arten von Ursachen oder Gründen; und nicht einmal die sinnwidrigste dieser Arten, die Zweckursachen (causes finales), sind ganz aus dem Sprachgebrauch der Philosophen verschwunden. Anderseits ist es noch nicht gar so lange her, dass zwei so ungleiche Begriffe wie Ursache (la cause d'un effet) und Grund oder Erkenntnisgrund (la raison d'un jugement) nicht mehr miteinander verwechselt werden. Diese Verwechslung von Wirkungsursache (z. B. das Quecksilber steigt, weil die Luft warm ist) und dem sogenannten Erkenntnisgrunde (z. B. ich weiß die Luft warm, weil das Quecksilber steigt) würde heute keinem Schuljungen mehr verziehen werden; aber nicht nur Aristoteles warf die beiden Begriffe durcheinander, sondern auch noch bei Spinoza ist der Sprachgebrauch und das Denken nicht klar, und erst Leibniz erfindet das Wort raison süffisante für Tatsachen sowohl als für Urteile. Wir werden hoffentlich bald erfahren, warum die guten Köpfe von Aristoteles bis Spinoza die reale Ursache mit dem Erkenntnisgrund verwechseln konnten. Vorher müssen wir uns kurz umsehen, ob die immer noch beliebte Einteilung der Gründe (oder der Ursachen) in verschiedene Arten einen rechten Sinn gebe; es ist uns dabei gleich bedenklich, dass die Sprache (wie häufig in solchen Fällen) die verschiedenen Begriffe, weil sie sie nicht deutlich auseinanderzuhalten vermag, miteinander verbindet, als ob sie einander ergänzten. Spinoza sogar sagt causa sive ratio, und in den neueren Sprachen ist die Zusammenstellung cause et raison, Grund und Ursache, häufig geworden, als ob diese Begriffe sich miteinander vertrügen.