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Gemüt und Wille

Aber nicht allein die Dinge der Außenwelt, so wie die Triebe in Krankheiten, von denen wir noch besonders weiter unten reden werden, — auch der innere Mensch, das Gemüt und der Wille äußern den bedeutendsten Einfluss auf die Naturautokratie in Krankheiten, — ein Einfluss, der nach Umständen bald vorteilhaft ist und zur Genesung führt, bald schädlich wirkt und den Tod herbeiruft. Groß ist die Macht des Gemüts in gesunden und kranken Tagen, worüber schon Kant (s. unten) eine sehr lesenswerte Abhandlung geschrieben, und der goldene Wahlspruch der Römer war: „Imperare sibi maximum est Imperium!“ „Die moralische Kraft, sich selbst zu beherrschen“ — sagt Holscher (Oken’s Isis 1840. Heft 11 u. 12), — diese schönste Blüte aller Weltweisheit und Religion, und ihr höchster und reichster Triumph, die moralische Kraft, wodurch wir es uns sichern mögen, im Kampfe des Lebens, wie das Geschick es auch für uns füge, nicht zu erliegen und unterzugehen, hat auch ihre eigene und eine nähere Anwendung in Krankheiten; und die Kunst, durch die Macht des Gemüts die damit verknüpften Leiden und Schmerzen zu beruhigen, ein wahres Opium der Seele, zur rechten Zeit anzuwenden, und wohltuend damit auf den Gang der Krankheiten und auf ihren endlichen Ausgang selbst heilend einen unleugbaren Einfluss auszuüben, dürfen wir mit Recht als eine besondere Wirkung der psychischen Kraft und der Mächtigkeit des Willens überhaupt betrachten, wodurch ja auch auf andere Weise im Leben, wie in den Wissenschaften, so Manches gebessert und vervollkommnet, und so manches unerreichbar Scheinende erzielt wird.“ Unter allen Gemütsbewegungen sind die deprimierenden: Gram, Trauer, Schreck, diejenigen, welche die Naturautokratie am meisten unterdrücken und ganz unwirksam machen. So ist es Tatsache, dass die Wunden des siegreichen Kriegers weit besser heilen und die Sterblichkeit hier verhältnismäßig weit geringer ist, als die gleichen Wunden und sonstigen Verletzungen bei den Soldaten des geschlagenen, retirierenden Heeres, — dass das Heimweh bei Amputierten fast immer den Tod herbeiführt, — dass moralisch kräftige Menschen bis zu einem gewissen, oft selbst hohen Grade Meister ihrer krankhaften Gefühle, ihrer Schmerzen werden können, wie dies Kant, Hufeland, Herz, Formey u. A. in den eigenen leidensvollen Zuständen bewiesen haben, — dass Mutlosigkeit, Furcht vor dem Tode in allen Krankheiten einen nachteiligen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit ausübt u. s. w. Der philosophische Arzt muss das Physische im Menschen auch moralisch zu behandeln wissen. Die moralisch praktische Philosophie gibt, nach Kant (s. Dessen sämtl. Werke, Bd. 10. Edit. Rosenkranz und Schubert, 1833. S. 362) zugleich eine Universalmedizin ab, die zwar nicht Allen für Alles hilft, aber doch in keinem Rezepte mangeln darf. „Dieses Universalmittel“ — sagt Kant — „betrifft aber nur die Diätetik, d. i. es wirkt nur negativ, als Kunst, Krankheiten abzuhalten. Dergleichen Kunst aber setzt ein Vermögen voraus, welches nur die Philosophie oder der Geist derselben, den man schlechthin voraussetzen muss, geben kann. Auf diese bezieht sich die oberste diätetische Aufgabe, welche in dem Thema enthalten ist: „Von der Macht des Gemüts des Menschen, über seine krankhaften Gefühle durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu werden.“ Kants Grundsatz der Diätetik ist: „Sie muss nicht auf Gemächlichkeit berechnet werden; denn die Schonung unserer Kräfte und Gefühle ist Verzärtelung, d. i. sie hat Schwäche und Kraftlosigkeit zur Folge, und ein allmähliches Erlöschen der Lebenskraft, aus Mangel an Übung, so wie eine Erschöpfung derselben durch zu häufigen und starken Gebrauch derselben.“ Nach Kant (l. c. X. p. 366) gehört der Stoizismus, als Prinzip der Diätetik (sustine et abstine!) nicht bloß zur praktischen Philosophie als Tugendlehre, sondern auch zu ihr als Heilkunde. Diese ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnlichen Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz. Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt. Dagegen, wenn sie diese Empfindungen zu erregen oder abzuwehren die Hilfe außer sich in körperlichen Mitteln (der Apotheke oder der Chirurgie) sucht, sie bloß empirisch und mechanisch ist.

Nichts in der Welt entwickelt die Naturheilkraft so bedeutend und stark, als ein kräftiger Wille, ein Gefühl der Kraft, welches auch die körperlichen Schwächen des Alters im gewissen Masse durch vernünftige Schätzung des Werts des Lebens wohl vergüten kann. Ist es einerseits Tatsache, dass der Mensch mit schwacher Willenskraft, wenn er sich seinen krankhaften Gefühlen mutlos überlässt, die sogenannte Hypochondria immaterialis, die Grillenkrankheit (nach Kant u. A. nur ein Geschöpf der Einbildungskraft) bekommen kann, und dann, statt sich selbst zu ermannen, ein Heautontimorumenos wird, der sich und seiner Umgebung das Leben verbittert; so ist es andererseits ebenfalls ein Faktum, dass ein kräftiger Wille viele Krankheiten verhüten und heilen kann. Woher kommt es aber, dass wir bei der Mehrzahl der Menschen, selbst bei Gebildeten mit gar nicht eingeschränkter Intelligenz, jetzt so selten diesen kräftigen Willen, dieses große Präservativ und Heilmittel, antreffen? Hier müssen wir vor Allem eine verkehrte Erziehung in der Kindheit und Jugend anklagen, wo die Eltern und Lehrer den jungen Menschen verweichlichen, verzärteln, statt ihn körperlich gegen Wind und Wetter, Hunger und Durst, Hitze und Kälte abzuhärten und dabei das Gemüt rein und zart zu erhalten (s. unten Anhang V). Aber auch der große Tross der Ärzte selbst ist Schuld an dem Mangel jener Willenskraft Sie rauben häufig den Kranken dieselbe durch ihr jämmerliches, gewinnsüchtiges Benehmen, und weil sie selbst unmoralisch sind und ihnen alle Heilkraft des Geistes abgeht, die unsere alten, frommen Ärzte in so hohem Grade besaßen. Das Leben und die Wissenschaft einer Generation beherrscht ein und dasselbe Schicksal. Beide teilen den Segen, wie den Fluch ihres Zeitalters im gleichen Verhältnisse. Derselbe Geist, der in der Gegenwart vorherrscht, prävaliert leider! auch in der Medizin der Gegenwart: ein flacher Materialismus, Eklektizismus und Indifferentismus für alles, was höher, als das „unmittelbar Nützliche“, als der Erwerb ist. „Wem die Heilkunst“, sagt seht wahr Hufeland (Encheiridium med. p. 83), „nicht zur Religion wird, dem ist sie die trostloseste, mühseligste und undankbarste Kunst auf Erden; ja sie wird ihn zur größten Frivolität, zur Sünde verführen. Denn nur was in Gott getan wird, ist heilig und beglückend. Und was ist sie jetzt bei so Vielen? Nichts als eine bloße Spekulation, ein Mittel) ihr Glück zu machen, Geld, Ehre zu erjagen, höchstens bei den Bessern Naturforschung.“

Wer ernsthaft und aus reinem, edlem Triebe seinem Nächsten helfen will, der bekommt auch immer mehr Kraft des Willens. Aber nichts unterstützt mehr den Willen, als erhabene Ideen: die Idee der Gottheit, der Sittlichkeit, der Wahrheit, des Rechts und der Tugend! Dadurch bekommt die Seele eine bewunderungswürdige Stärke und Festigkeit. Groß ist die Macht der religiösen, moralischen und ästhetisch erhabenen Ideen! Sic ändern den ganzen Menschen um, sie geben Ihm ein neues, höheres Leben. Ihre Kraft wirkt wohltätig auf die Stimmung des Körpers, vertreibt den Schmerz, macht uns größer und stärker, um uns selbst zu beherrschen und uns den Vernunftgesetzen allein zn unterwerfen. Habe Achtung gegen die Menschen und Ehrfurcht gegen Gott! Dies bedenke auch der Arzt. Lauterkeit der Gesinnung, Reinheit im Lebenswandel und eine richtige, humane Lebensansicht haben den wohltätigsten Einfluss auf die praktische Wirksamkeit des Arztes. Wer aber mit den Schlacken der Falschheit und der Torheit, der Eitelkeit und Sinnlichkeit als Arzt ans Krankenbette tritt, bringt dem Kranken keine Hilfe, keinen Segen, sein Handeln wird zum Fluche; denn ihm fehlt der kräftige Wille zum Heilen, ihm fehlt die hohe Geisteskraft, welche wohltätig ins eigne und fremde Fleisch und Blut geht. Er befördert bei seinen Kranken, statt sie zu mindern und zu verscheuchen, Angst, Furcht und Schrecken, stört so die Naturkraft und verschlimmert die Krankheit (s. meine Schrift: Über alte und neue med. Lehrsysteme. 1841. S. 185—188). —