Triebe als diagnostische Zeichen
Die Triebe in Krankheiten dienen dem Arzt oft als wichtige diagnostische Zeichen, besonders bei bewusstlosen Kranken und bei Kindern, bei denen sie die Sprache ersetzen. Die automatischen Bewegungen nach dem leidenden Teile belehren ihn über den Sitz der Krankheit, die Stärke der Triebe über ihre Intensität; selbst der Mangel an Trieb ist oft ein wichtiges Kennzeichen, durch das man ähnliche Formen, doch verschiedenen Ursprungs, unterscheidet, z. B. Ischuria paralytica von der Ischuria spastica und inflammatoria.
In prognostischer Beziehung haben die Triebe hohe Bedeutung. Der Mangel aller Triebe deutet auf große Gefahr; bei bedenklichen Leiden ist es ein übles Zeichen, wenn die Triebe mit der Gefahr nicht übereinstimmen; z. B. der Drang, das Bett zu verlassen, beim Typhus; ein gutes dagegen ist die Rückkehr der gewohnten Triebe in der Abnahme der Krankheit.
Die Folgerungen für Therapie ergeben sich zum Teil aus dem Gesagten von selbst. Nur einige Punkte dürfte der Praktiker noch berücksichtigen:
1) „Im Allgemeinen lässt sich über die Heilsamkeit eines Triebes in Krankheiten“, — sagt Weiglein — „nur a posteriori entscheiden. Ist er in einer Krankheitsform allgemein, stimmt er zugleich mit der als vorteilhaft erkannten Heilmethode überein; so darf man ihn ohne Scheu bei den Einzelnen befolgen. Die Allgemeinheit eines Triebes ist für sich noch kein sicheres Kriterium seiner Heilsamkeit; alle Krätzige fühlen z. B. einen Trieb zum Kratzen, die Melancholischen zur Einsamkeit.
2) Man unterscheide, dass die Befriedigung mancher Triebe palliativ, aber nicht radikal heilsam sei, z. B. Milchspeisen bei Würmern, Wurmfieber. Selbst die Befriedigung eines krankhaften Triebes ist momentan angenehm, schadet aber gewöhnlich in der Nachwirkung.
3) Ungewöhnliche Abneigungen gegen übrigens angezeigte Arzneien sind nicht immer die Stimme des Instinkts, sondern eines bloßen Vorurteils. Hat der Arzt gegründeten Verdacht, dies zu vermuten, so suche er sie heimlich, aber in vorsichtiger Gabe beizubringen.“ Ein Kranker zeigte — wie W. erzählt — unüberwindlichen Ekel gegen Fleischbrühen oder Speisen, die damit bereitet waren. So lange man ihm gestand, dass sie ein Ingredienz derselben ausmachten, spürte er sogleich Ekel und Aufstoßen; als man es ihm verheimlichte, ertrug er sie ohne Nachteil.
4) Im Allgemeinen sind jedoch negative Triebe mehr zu berücksichtigen, als positive; z. B. Abscheu gegen Speisen, Getränke, Lichtscheu u. s. w. Vorzüglich beachte man den Instinkt beim Fortgebrauche gewisser Arzneien, bei Badekuren, Mineralwässern, bei anderen eingreifenden Mitteln, z. B. Jod, China. Wenn nach längerem Gebrauche eine unüberwindliche Abneigung entsteht, zeigt der Instinkt damit den Sättigungspunkt eben so sicher an, als andere Symptome.
5) Deutet der Instinkt unter den diätetischen und pharmazeutischen Mitteln, welche die Erfahrung gegen eine Krankheitsform bewährte, auf eines vorzüglich hin, so ist es zu wählen. So wurde eine Wechselfieberkranke mehrere Wochen lang ohne Erfolg mit China behandelt. Auf ihr dringendes Verlangen erhielt sie endlich Kaffee, den sie als das einzige Mittel gegen ihren Zustand ansah. Nach zwei Tagen blieben ohne den Fortgebrauch der China die Anfälle aus, und kehrten nicht wieder. Eine hartnäckige Bleichsucht besserte sich durch alle Spezifika nicht, und die Kranke hatte gegen ihren Fortgebrauch unüberwindlichen Ekel. Auf ihre tägliche Bitte gab man ihr als einzige Nahrung bloß Sauerkraut, und hatte die Freude, eine schnellere Besserung davon zu sehen, als von allen Arzneien. — Ähnliche Beispiele wird beinahe jeder Arzt aus seiner eignen Erfahrung kennen.
6) Besondere Gelüste und Idiosynkrasien sind um so mehr zu berücksichtigen, je reiner das Nervenleiden ist; z. B. bei Kardialgie ohne gastrische Unreinigkeiten werden nicht selten Käse, Schinken u. dergl. ohne Nachteil ertragen, während die unschuldigsten Dinge Krampf erregen. Da der Instinkt vorzüglich im Gangliensysteme seinen Sitz hat, so tritt er besonders in Krankheiten hervor, in denen die Lebenstätig keit desselben erhöht ist, wie im Somnambulismus, in manchen Arten von Hysterie, sodann auch sympathisch bei Gehirnleiden. So deutet, wie Friedreich bemerkt, der häufige Trieb bei Irren, harte Speisen zu verschlucken, auf einen torpiden, starke Reize erfordernden Zustand des Magens.
7) Der praktische Scharfblick des Arztes soll an manchen, an sich heilsamen Trieben das Extravagante erkennen und ihrer Befriedigung bei Zeiten vorbeugen, z. B. dem Triebe mancher Irren, sich ins Wasser zu stürzen, auch wohl sich zu verwunden.
8) Er wird ferner die Analogie des menschlichen Instinkts mit dem der Tiere in ähnlichen Krankheiten wohl beachten, und in ihrer Übereinstimmung einen Beweis für die Richtigkeit desselben finden. Dahin gehören der Abscheu vor dem Futter bei Entzündungen und gastrischen Krankheiten mit geschwächter Verdauung; das Verlangen nach kaltem Wasser bei der Magenentzündung (Rinderpest); nach säuerlichen Getränken bei Anthraxkrankheiten; nach absorbierenden Substanzen bei Magensäure. In Bezug auf Lage und Verhalten einzelner Organe: das Verschließen der Augen und Abwenden vom Lichte bei Augenentzündung; das Strecken des Halses bei Halsentzündung; das Halbliegen, eine Art Sitzen, bei allen bedeutenden akuten und chronischen Lungenleiden; das Krümmen des Rückens und enge Zusammenstellen der Füße unter den Bauch bei schmerzhaftem Unterleibsleiden u. s. w.
9) Triebe haben — sagt Weiglein — nur den Wert subjektiver Symptome, und stehen daher den objektiven weit nach. Wenn daher letztere mit ihnen im Widerspruch sind, so sei man auf der Hut, sich von ihnen täuschen zu lassen. Man lege wenig Gewicht auf große Esslust bei deutlichen Zeichen von Unreinigkeiten der ersten Wege; auf das Gefühl innerer Kälte und den Trieb nach starker Erwärmung, oder umgekehrt auf das Entblößen und Aufdecken des Kranken, wenn die untersuchende Hand oder der Thermometer erhöhte oder verminderte Temperatur zeigt u. s. w.
Eben so ist bei Organisationsfehlern, z. B. bei Atrophien, die eine Schwäche oder gänzliches Aufhören bestimmter Funktionen notwendig bedingen, einem fortwährenden Triebe nach ihrer Befriedigung nur sehr vorsichtig oder gar nicht zu entsprechen.
Kein Arzt wird in Abrede stellen, dass uns die Triebe in Bestimmung der zweckmäßigen Diät und des Verhaltens gewöhnlich als Basis dienen. Leichtere Erkrankungen oder solche Formen, die einen bestimmten Verlauf haben, werden oft durch die bloße Befolgung des Instinkts geheilt, z. B. entzündliche Fieber, akute Ausschläge, Exkretionskrankheiten; zuweilen aber auch die hartnäckigsten, bösartigsten Formen, wie die orientalische Cholera durch die Kälte. Hier, so wie bei allen neuen, unbekannten Formen ist es die Analogie mit anderen Krankheiten, die über die Heilsamkeit der Triebe entscheidet. Jeder gute Praktiker wird in Betreff der Triebe, die sich bei Gesunden und Kranken äußeren, die hier mitgeteilten interessanten Bemerkungen Weigleins als richtig anerkennen. Es bedarf hier kaum bemerkt zu werden, wie wichtig und notwendig die genaue Berücksichtigung und richtige Leitung der Triebe, des Instinkts, der Gelüste u. s. w. in Krankheiten ist, will man anders der göttlichen Naturheilkraft nicht unvernünftig entgegentreten und den Zustand des Leidenden verschlimmern. —