Naturheilkraft
Naturheilkraft, Naturautokratie. Diese göttliche Kraft ist das erste und großeste Haus- und Volksarzneimittel, worauf wir schon in dem Artikel Hausarznei- und Volksmittel (s. oben S. 268) aufmerksam gemacht haben. Der Gegenstand ist aber so unendlich wichtig, dass wir ihn hier in unserer Enzyklopädie der Volksmedizin noch ausführlicher besprechen müssen. Nicht allein Laien, ja auch sehr viele einseitige Köpfe unter den Ärzten verkennen, verleugnen oder ignorieren diese göttliche Kraft, und glauben, dass sie allein und nur durch aktives Verfahren mittels mehr oder minder heftig in den Organismus einwirkender Arzneikörper Krankheiten heilen könnten und müssten, — wodurch sie so viele ihrer Kranken ins Grab stürzen, und völlig die Worte vergessen, welche so wahr als schön der unsterbliche Sydenham spricht: „Aeger non raro nulla alia de causa ad plures migrat, quam nimia medici diligentia; graviora morbis, patimur remedia; errant, sed neque erudito errore, qui naturam artis adminiculo ubique indigere pntant.“
"Viele Verbesserungen“ — sagt der tiefdenkende Kant — „können in den Wissenschaften vorgehen, welche alle negativ sind. Ein Arzt, der lange seine Kunst getrieben und zugleich negative Prinzipien bei Patienten ausübt, ist der, welcher ihnen oftmals gar keine Arznei gibt und in gewisser Hinsicht dem Kranken seine Hilfe entbehrlich macht, damit er der Natur kein Hindernis in den Weg lege, die in sich selbst ihre Quelle hat, sich zu helfen. Diese negative Arzneiwissenschaft ist der höchste Gipfel der Medizin! Es gehört dazu nicht Wissenschaft (formale), sondern Einsicht in die Ökonomie der Natur und Selbstüberwindung des pedantischen Stolzes, wo ein Jeder mehr seine Geschicklichkeit zu zeigen sucht, als dem Kranken zu helfen“ (s. Kant, Über Menschenkunde. Leipz. 1831).
Jene Quelle ist aber die göttliche Autokratie der Natur (Physiautocratia, Vis naturae conservatrix et medicatrix), d. i. die organische Tätigkeit, in so fern dieselbe selbst Mittel und Zweck ist, die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten zu heilen. Diese Naturautokratie ist freilich keine selbstständige, innere Kraft, wie die Alten glaubten; denn jede Heilung ist nur Rückkehr zu Gesundheit, und diese hängt, als Eigenheit des Lebens, wie das Leben selbst, gerade eben so viel von der Außenwelt (äußeres Lebensmoment), wie vom Organismus (inneres Lebensmoment) ab; — aber dennoch ist sie von der höchsten Bedeutung! Denn sie ist und bleibt das erste und größte Heilmittel! Sie ist es, die ohne alle Kunsthilfe die schwersten Krankheiten heilte und noch heilt. „Natura sanat, medicus curat morbos!“ Alle Sekten von Ärzten, von Hippokrates bis auf unsere Zeit — mit alleiniger Ausnahme Browns, Rasoris und der Homöopathen, namentlich ihres Vaters Hahnemanns, kamen darin überein, dass sie die Heilkraft der Natur anerkannten. Diese Übereinstimmung und Anerkennung der Physiautokratie bei den verschiedensten Sekten und in den verschiedensten Zeiten ist der triftigste Beweis für die Wahrheit derselben, und nur in unserem Zeitalter der Künstelei konnte sie von manchen Ärzten in den Hintergrund gestellt werden, so dass diese der Natur zu wenig oder gar Nichts, der Kunst aber zu viel oder Alles zutrauten. Wenn unsere älteren Ärzte bescheiden genug waren einzugestehen, dass die Natur das Heilen tue und sie nur die Natur in ihren Heilbestrebungen durch zweckmäßige Mittel zu unterstützen vermöchten; so sind dagegen viele unserer jüngeren Praktiker des verkehrten Glaubens, dass nur sie durch ihre Mittel, durch ihr aktives Verfahren, nicht die Natur, die Krankheiten heile. Auf diese passt der alte, wahre Spruch, dass das Arzneimittel oft schädlicher, als das Übel, und der Arzt schlimmer, als die Krankheit selbst sei. Hier werden häufig, wie Kieser (System d. Medizin 1812. Bd. I. Vorrede) schon vor 30 Jahren richtig bemerkte, künstliche Krankheiten erzeugt und viele nachfolgende chronische Krankheiten werden auf solche Weise nur durch Schuld der Ärzte hervorgebracht. „Daher sollte man bei dem gegenwärtigen Zustande der praktischen Arzneikunde“ — sagt Kieser — „sowohl in Deutschland, wie in den Nachbarländern, jeden Kranken vor dem Arzte, wie vor dem gefährlichsten Gifte warnen.“ Schon Fabricius ab Aquapendente sagt: „Satius fuerit ab ipsa natura discere, ipsamque imitari, quoniam Natura in operibus suis magis sapiens est quam ars.“ Und der herrliche M. Stoll drückt sich klagend so aus: „Plures remediorum usus necat, quam vis et impetus morbi.“ Auch noch jetzt ist diese Klage nicht völlig erledigt, obgleich die Naturautokratie, einige neuere Physiologen einseitiger Richtung, z. B. Stannius u. A. ausgenommen, — immer mehr und mehr anerkannt wird, wozu seit einem Dezennium würdige Männer durch eigene Abhandlungen und Schriften, namentlich Hufeland (s. Dessen Journal 1833. St. 1), Greiner (Der Arzt im Menschen, oder die Heilkraft der Natur. 1827 u. 1829. 2 Bde.), Jahn (Die Naturheilkraft. 1831), Strauss (Die Heilkraft der Natur u. s. w. 1829) u. a. m. sehr viel beigetragen und sich dadurch um die leidende Menschheit, so wie um die Wissenschaft sehr verdient gemacht haben.
Der alte Grundsatz: „Medicus minister, non magister naturae esto,“ erleidet zwar mitunter Einschränkungen, indem der übermäßigen, zu heftigen oder perversen Naturheilkraft der Arzt sich oft wahrhaft opponieren muss (s. Most, Med.-chirurg. Enzyklopädie. 2. Aufl. 1836. Bd. I. S. 246—249); indessen kann ich als Regel und für die Mehrzahl der Fälle nicht anders, als Hufelands Ausspruch unterschreiben, wenn er (l. c.) sagt: „Selbst bei der künstlichsten Behandlung bin ich längst zu der Überzeugung gekommen, dass von allen geheilten Kranken der größte Teil zwar unter Beistand des Arztes, aber der bei weitem kleinste Teil durch seinen Beistand allein geneset.“ Der unsterbliche Gaubius, der eigentliche erste Begründer einer rationellen allgemeinen Pathologie, sagt (Elementa pathologiae universalis. Edit. Gruner. 1784. §. 9) sehr wahr: „Die Arzneikunde ist die Wissenschaft und kluge Lenkung der Kräfte der menschlichen Natur, die allein und ohne Arzt die Gesundheit bewirkt; daher muss der Arzt Diener der Natur sein.“ Aber dies heißt nicht, wie einzelne Ärzte glauben, untätig sein und am Krankenbett nur den Beobachter machen, unschuldige, unwirksame Mittel bei strenger Diät zu verordnen und der Natur Alles zu überlassen. Der wahre Arzt handelt und ist dennoch Diener der Natur. Er überlässt ihr nur in den (allerdings zahlreichsten) Fällen allein die Heilung, wo die Krankheit nicht gefährlich und die Autokratie noch stark genug zur Abwendung und Entfernung der krankmachenden Schädlichkeit ist. Aber er hilft mit, er unterstützt diese Kraft, wenn sie zu schwach ist, er weckt sie, wenn sie schlummert, er mäßigt ihr zu heftiges, sowohl universelles, als lokales Wirken, wodurch sonst der Kranke ein edles Organ verlieren oder zu Grunde gehen könnte. So sehr Gaubius die Vis naturae medicatrix auch schätzte, so wusste er dies dennoch sehr gut, und er äußert sich darüber (I. c. §. 104), nachdem er vorher bemerkt, dass der Arzt Diener der Natur sein müsse, sehr wahr, indem er sagt: „Doch irren diejenigen, welche aus ihr (der Naturautokratie) lauter Gutes erwarten. Auch die Natur macht ihre Fehltritte! — — — Ein kluger Arzt muss also nicht blos den bewundernden Zuschauer der selbstwirkenden Natur machen, sondern dieselbe auch aufhalten, wenn sie zu hitzig ist, anspornen, wenn sie zu träge ist, und auf den rechten Weg führen, wenn sie irre geht.“ Seine eignen Worte sind: „Prudentis medici est, non modo mirabundum autokrateias Naturae spectatorem agere, sed et praecipitem refrenare, excitare torpidam, errantem in viam reducere.“ Und hiermit findet auch der als Regel geltende Ausspruch des Celsus: „Repugnante Natura nil medicina proficit,“ seine vollgültige Ausnahme.
Krankheiten, die dem Arzte ganz unheilbar scheinen, heilt oft die Natur durch die inneren Kräfte des Körpers ohne Zutun der Kunst, ja sie vollbringt dieses Geschäft nicht selten auf eine weit vollkommenere Art, als wenn die Kunst daran Teil nimmt. Vorzüglich sind es jene Umänderungen im Körper, die wir Krisen nennen, mittelst welcher die Natur oft so unerwartet und höchst überraschend wirkt. Der Kranke, den wir noch am Abend dem Tode geweiht glauben, bekommt in der Nacht einen reichlichen kritischen Schweiß, und wir finden ihn früh außer aller Gefahr. In einer schweren hitzigen Krankheit, die wir vergebens mit unseren Mitteln bekämpfen, entsteht plötzlich ein äußerer Abszess, und die Krankheit ist gehoben. — Alle Krankheitsheilungen werden durch die Natur bewirkt, die Kunst ist nur ihr Gehilfe und heilt nur durch sie. Alles rationelle Heilen beruht einzig auf richtiger Leitung und Unterstützung der Naturheilkraft! — „Es gibt keine Krankheit“, sagt Hufeland, „vom heftigsten Entzündungsfieber bis zur fauligen Pest, von den Suppressionen bis zu den Profluvien, von den dynamischen Krankheiten bis zu den Dyskrasien, die nicht schon durch die Natur allein geheilt worden wäre.“ Dieses ist Tatsache, wobei wir aber, wie ich schon oben bemerkte, nicht die Einflüsse des äußeren Lebensmoments, der Extranea, übersehen dürfen, sondern was Licht, Luft, Bewegung, Ruhe, Schlaf, Leidenschaften u. s. w. zur Anfachung und Unterstützung der Naturheilkraft, = Reaktion, beigetragen haben, mit in Anschlag bringen müssen. Hält diese Reaktion das Gleichgewicht mit der Krankheit, so steht sich der praktische Arzt am besten, wenn er sich mehr passiv, als aktiv verhält, z. B. bei akuten Exanthemen, wo das Fieber mäßig und ohne beunruhigende Symptome ist. Blattern, Masern, Scharlach, akute Petechen u. s. w. machen einmal ihren Verlauf, woran nichts zu ändern ist. — Viele örtliche Leiden werden nur deshalb chronisch, weil die Reaktion oder Naturheilkraft mehr örtlich als allgemein, mehr fragmentarisch und unvollständig, als komplett und vollständig ist, indem sie nur in einem System des Körpers kämpfend auftritt. Hier wird das Leiden oft am besten durch eine allgemeine Reaktion des Körpers geheilt, z. B. ein chronischer Flechtenausschlag durch hinzugekommenes allgemeines Fieber, Infarkten durch ein intermittierendes Fieber, Neurosen aller Art durch Elektrizität, Galvanismus, Bäder u. s. w., welche die Gesamtnaturheilkraft bedeutend anregen.
Viele sogenannte Krankheiten sind weiter nichts, als Krankheitssymptome, und in vielen Fällen nur Heilbestrebungen der Natur, z. B. die meisten Fieber und Entzündungen. So erklärt es sich, wie eine Krankheit eine andere verhütet, eine dritte heilt (s. C. L. Klose, Über Krankheiten als Mittel zur Verhütung und Heilung von Krankheiten. 1826). — Dass z. B. das Fieber nur als der Conat der Naturautokratie zur Wiederherstellung der Gesundheit betrachtet werden müsse, ist eine Ansicht, welche ältere und neuere Ärzte nicht ohne guten Grund aufstellen. — Es gibt bestimmt eine negative Medizin und Chirurgie! Darunter verstehe ich diejenige Lehre, welche dem praktischen Arzt und Wundarzt, Geburtshelfer und Augenarzt eine genaue Kenntnis von den Heilbestrebungen der Natur in allen speziellen Krankheitsformen verschafft, damit man da, wo die Naturautokratie hinreichend tätig ist, auch nicht zu exzessiv sich verhält, diese in ihrem Heilbestreben durch unzeitige, unrechte Kunsthilfe nicht stören, mit einem Wort: damit wir Ärzte und Wundärzte am Krankenbette durch unsere Arzneien zur unrechten Zeit, durch große Dosen, zumal heroischer Mittel und durch unzweckmäßige Arzneiverbindungen nicht schaden, also die Kontraindikationen der Heilmittel, wozu auch die verschiedenen chirurgischen und geburtshilflichen Operationen gehören, wohl beherzigen, Zeit und Umstände wohl erwägen und die Erfahrungen älterer Ärzte, die so treu die kranke Natur beobachteten, stets zu Hilfe nehmen. (F. Schrader, De morborum quorundam salubritate. Heimst. 1691. Weide, De morbo auxiliari diss. Lugd. Bat. 1695. — Hornung, De morbis morborum remedüs. Altdorfi 1708. — C. G. Richter, Natura morborum per morbos victrix. Gött. 1730. — D. Raymond, Traité des maladies, qu’il est dangereux de guérir. Edit. Giraudi. Par. 1816. — C. E. C. Richter, Diss. de sanatione morborum per morbos. Vratisl. 1825. — M. Alberti, Diss. de medico in nobis sine medicina. Hai. 1735. — Barfoth, Diss. de facultate naturae medicatrice a vi vitali non distinguenda. Lond. 1800. — Hecker, Archiv für allgem. Therapie. Bd. I. Heft I.) So ist nach vielfältigen Beobachtungen die Naturautokratie nicht zu jeder Zeit gleich wirksam. Sie ist wirksamer des Nachts und im Schlafe, als bei Tage und im Wachen, wirksamer bei ruhiger horizontaler Lage des Körpers und bei heiterem Himmel, als bei sitzender Stellung und trübem Himmel u. s. w. Daher ist es auch bei guten Praktikern Regel, schlafende Kranke nicht aufzuwecken, wenn es auch Zeit zum Arzneieinnehmen ist; denn es heißt mit Recht: „Der Schlaf, d. i. der natürliche, ist eben so gut, als Arznei.“ Viele Krankheiten verschläft in der Tat der Mensch! Wir geben daher des Nachts, wenn keine Gefahr da ist) keine Arznei, — eben so an den kritischen Tagen, die daher Hippokrates auch Dies vacui, Dies contemplantes nannte. So wie viele Krankheiten ihr Typisches haben (Intermittens, Epilepsie, Chorea, Catalepsis u. a. Neurosen), so hat es auch die Naturautokratie. In welchen Krankheiten letztere aber ihre Ebbe und Flut zeige, und zu welcher Zeit? Wie hier die Tageszeiten und andere feine Veränderungen in der Atmosphäre, Elektrizität, Luftdruck, Erdmagnetismus u. s. w. noch influieren? Diese Untersuchungen müssen noch angestellt werden, wollen wir die göttliche Naturautokratie auch in ihren feinen Nuancen näher kennen lernen.
Aber eine große Menge Fragen über den Zusammenhang der Erscheinungen in der Natur, über die nicht zu leugnende Harmonie in Natur- und Menschenleben, über Sympathie im Universum u. a. m. sind bis auf den heutigen Tag noch nicht erledigt, können auch durch naturphilosophische Spekulationen, wie dies z. B. J. C. Brandt (s. Dessen Grundriss eines Systems d. Harmonie im Natur- und Menschenleben u. s. w. Jüterbogk 1834) versucht, keineswegs erledigt werden.