Instinktmäßige Triebe
Instinktmäßige Triebe sind vorzüglich Präservative gegen Krankheiten. Der Instinkt wirkt nämlich als Präservativ, teils gegen schädliche Einflüsse, die er abwendet, teils gegen den schon bestehenden Keim einer Krankheit, die schon in ihrem ersten Anfange den Organismus zur Gegentätigkeit bewegt. Wir fühlen nach vorausgegangener Anstrengung den Trieb zur Ruhe und Erholung; nach künstlicher Erwärmung oder Abkühlung, um die normale Temperatur des Organismus zu erhalten; das Aufhören der Esslust schützt uns gegen Indigestionen; gegen mechanische Beschädigung z. B. das unwillkürliche Zucken mit den Augen, das plötzliche Abwenden von der Seite, von der uns Gefahr droht. Der Instinkt bestimmt den richtigen Zeitpunkt, in dem jedes willkürliche Organ der Ruhe oder der Tätigkeit bedarf; er deutet uns endlich die passendste Ernährung und Lebensweise in den verschiedenen Jahreszeiten und Klimaten an. In der Krankheit selbst drängt sich vor Allem die Frage auf, sind die Triebe nur Äußerungen derselben, wie andere Symptome, oder Fingerzeige der Natur, die wir beachten sollen, d. i. sind sie, wie schon früher berührt wurde, als rein symptomatisch oder als wahrhaft instinktmäßig oder physiatrisch anzusehen? Gewöhnlich finden sich beide in einem und demselben Falle vereint, z. B. bei Skorbut, Bleichsucht, zeigt der Kranke Neigung zu sauren Substanzen, aber auch zur Untätigkeit und Ruhe. Einigen praktischen Wert hat auch die Einteilung in positive und negative Triebe, von denen letztere nur eine Abneigung, gewisse Verrichtungen auszuüben und den Widerwillen gegen bestimmte Dinge bezeichnen. Gehen wir die verschiedenen Krankheitsfamilien durch, so finden wir den Instinkt gerade da am regesten und untrüglichsten, wo auch die Reaktion des Organismus am lebhaftesten hervortritt, d. i. Im entzündlichen Fieber. Der unabweisliche Durst, die Neigung zu kühlenden Mitteln und zur Ruhe, der Mangel an Esslust, sind unfehlbare Triebe; je intensiver der Grad des Fiebers, umso mehr werden sie gesteigert. Schon deshalb werden entzündliche Fieber leichter geheilt, weil die verordnete Diät und sonstige Verhalten mit den natürlichen Trieben des Kranken übereinstimmt. Es ist eine bekannte Sache, dass sich zu Entzündungen bei Kindern leichter Fieber gesellt; weil aber ein erhöhter Instinkt sein unzertrennlicher Gefährte ist, so werden sie auch seltener vernachlässigt und öfters durch die bloße Naturheilkraft geheilt. Bei alten Leuten ist gerade das Gegenteil.
Bei den akuten Entzündungen in specie gilt dasselbe, was vom entzündlichen Fieber im Allgemeinen gilt; nicht so aber bei chronischen, fieberlosen Entzündungen wenig empfindlicher Organe. Die Wirkungen des Krankheitsprozesses sind hier jenen analog, welche im gesunden Zustande durch verschiedene Reize auf die Organe erfolgen. Nur dürfen sie hier befriedigt werden, in jenem Falle aber nicht ohne Nachteil. So ist der Trieb, die Funktion eines Organs auszuüben, oft krankhaft erhöht; wie bei Säure der ersten Wege nicht selten eine ungewöhnliche Esslust; bei leichter Reizung der Sexualorgane ein lebhafterer Geschlechtstrieb u. dergl.
Bei Schwäche mit Erethismus treffen wir nicht selten eben so lebhafte Triebe, wie im entzündlichen Fieber; doch sind hier die krankhaften vorwaltend und die instinktmäßigen zurückgedrängt. Der Typhuskranke hat einen beständigen Trieb, das Bett zu verlassen und zu entfliehen; der mit Tabes dorsalis oder Atrophie des Rückenmarkes leidet an erhöhtem Geschlechtstriebe; derselben Erscheinung begegnen wir in Krankheiten, die sich öfters durch ungewöhnliche Erhöhung der Geisteskräfte auszeichnen, wie in der Phthisis pulmonalis, bei Skrofeln, Rachitis; bei letzteren treffen wir einen ungewöhnlichen Hang zu Mehlspeisen, bei ersteren (bei Lungensüchtigen) noch im letzten Stadium eine Neigung zu weitaussehenden Plänen, einen abnormen Geschlechtstrieb u. s. w.
Adynamische Zustände, Krankheiten mit wahrer Schwäche, sind in der Regel mit einem Triebe nach Reizmitteln und nach erregender Nahrung verbunden, z. B. manche Atrophien, wie der Marasmus senilis, die Tabes dorsalis; manche Dyskrasien, als Skorbut, Chlorosis u. s. w.; allein auch bei falscher Schwäche, bei bloßer Unterdrückung der Kräfte, wie bei Apoplexie, manchen Arten von Hysterie, ist diese Erscheinung nicht selten. Sind endlich die Kräfte bedeutend gesunken, und namentlich ein großer Torpor des Gangliensystems vorhanden, so ist auch eine Abnahme, ja ein Erlöschen der Triebe bemerkbar. Im Allgemeinen lässt sich der Satz behaupten: Bei sthenischen Zuständen sind die Triebe auf Reizverminderung, bei asthenischen auf ihre Vermehrung gerichtet! —