Die Naiven
Neulich, in einer jener Reichstagsuntersuchungskommissionssitzungen, wo die Ursachen des Dreißigjährigen Krieges verspätet, aber nicht minder herzlich festgestellt werden, rief jemand Philipp Scheidemann zu: »Sie wissen doch, wie oft von der Polizei falsche Pässe ausgestellt werden!« Und Philipp: »Ich hoffe, dass ich es nie zu wissen brauche.« Da soll einem doch gleich der große Zeh verdorren!
Denn so sehen diese Naiven aus:
Wenn die bayerische Polizei einem ihrer Fememörder einen falschen Paß zur Flucht ins Ausland ausstellt, so wird so getan, als sei dies der erste falsche Polizeipaß, der je auf der Welt ausgestellt worden ist – und jener hofft, dass er dergleichen nie zu wissen brauche. Es ist, bei der völligen Instinktlosigkeit dieser Sorte Politiker, sogar möglich, dass er es wirklich nicht weiß, und wenn er nicht geheuchelt hat: um so schlimmer.
Was ist denn das für eine alberne Unkenntnis der einfachsten Gesetze vom Staatsmechanismus, so zu tun, als ginge stets alles ›ordnungsmäßig‹ vor sich! Leben wir in einer Fibelwelt? Wissen Scheidemann und die Seinen, die sich immer noch bemühen, das Märchen von der Reinheit des öffentlichen Lebens aufrechtzuerhalten, nicht, wie unter dem Kaiser, in dieser Republik, in andern Kaiserreichen und in andern Republiken, wie überall auf der Welt regiert wird, immer regiert worden ist? Daß noch niemals ein Staat ohne Fälschung, Mord, Justizverbrechen, falsche Pässe und richtige Provokateure ausgekommen ist? Daß er ›moralisch‹ immer nur für die andern ist, die diese Moral befolgen sollen, aber niemals für sich selbst, der er sie gar nicht befolgen kann, will er sich nicht selbst aufgeben? Weiß er nicht, wie jede Polizei, ohne Ausnahme jede, von Anbeginn der Welt gearbeitet hat? Es gibt da Nuancen: außer der alten venetianischen Staatspolizei wird es nicht so bald wieder eine geben, die so unterrichtet, so geschickt, so machtvoll ist wie etwa die französische Sûreté Générale – aber das sind doch nur Gradunterschiede. Im Grunde sind sie alle gleich, müssen sie alle gleich sein.
Und an diese Staatsmaxime, die das Recht den Zweckmäßigkeitsgründen unterordnen muß, kommen diese Lacknaiven und »hoffen, dass sie es nicht zu wissen brauchen«. So ist denn auch ihre Politik: vom 9. November bis zum Schundgesetz, immer dieselbe. Das bietet einen Anblick wie ein rumänisches Haus: der Salon ist furchtbar fein, aber frage mich nicht, wo die Dienstboten schlafen, und wo sie sich waschen. So ist denn auch grade die Polizeitätigkeit in Republiken der sogenannten Kontrolltätigkeit der Parlamente fast völlig entrückt: Personalpolitik, Verwendung der mehr oder weniger düstern Fonds, Praxis und Exekutive spielen sich völlig im Dunkeln ab und verbleiben von Anbeginn bis zu Ende im Schoß der Bürokratien, die häufig einen kleinen Staat im Staate bilden. Davon weiß Scheidemann nichts.
Traurig, wenn erwachsene Menschen so im Dogma, in ihrer kleinmuffigen Bürgerwelt, in Lüge verstrickt sind, dass sie wirklich nichts mehr sehen. Die Ohnmacht, die Einflußlosigkeit, der Mangel an Ahnung, die die Parlamente bekunden, zeigt sich nirgends so deutlich wie ihrer eignen Polizei gegenüber. In Deutschland wird das nur noch von der jämmerlichen Rolle übertroffen, die der Reichstag dem Heere gegenüber spielt. Es sind artige Kinder, die sich ungeheuer erwachsen vorkommen, den Wolf für einen Vegetarier halten, weil er sie noch nicht gefressen hat, und die stets guter Hoffnung sind, keine falschen Polizeipässe sehen zu müssen. Graviditas chronica.
Schade, dass Philipp Scheidemann keinen Sohn hat, der in Spionageverdacht gerät. Er lernte schnell alle miteinander kennen: Polizei, Staatsanwälte und Reichsgericht. Aber es ist ihnen nicht zu helfen. Denn noch, wenn sie verlöschend an der Laterne hängen, zappeln sie mit den Beinen und murmeln: »Ich bitte Sie … ein nicht zu verallgemeinernder Einzelfall … Ich hoffe … « Und dann sind sie tot.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 18.01.1927, Nr. 3, S. 111.