Die Veränderlichen
In Deutschland ändert sich nur das Wetter? Das stimmt nicht.
Seit dem Jahre 1914 hören wir ununterbrochen, auf alle Vorwürfe, von allen Leitartiklern, dass »Deutschland aber doch so viel arbeite«, dass »hier gearbeitet wird wie nirgends auf der Welt« und was man so schreibt. Was zunächst falsch ist. Ob aber »so« anderswo gearbeitet wird, das ist allerdings fraglich.
Man kann getrost rechnen, dass etwa ein Zehntel der deutschen Arbeit darauf gerichtet ist, etwas »nun aber mal ganz anders« zu machen. Weil das Land übervölkert ist, weil gar nicht so viel Arbeit da ist, wie die derzeitige Ordnung verlangt und wiederum zu geben gewillt ist, machen sich die Leute, die im Besitz einer Stellung sind, jene beamtliche Seuche zu eigen: sie erschaffen künstlich Arbeit. Symptom:
Man sehe sich einmal Schilder von Verkehrsfahrzeugen, von Straßen, von Bahnhöfen an. Was wird da herumgewurstelt! Was wird da experimentiert! gewechselt, umgelegt, neu angestrichen, heruntergerissen, wiederangeschraubt … ! Ich schweige ganz von dem Unfug, am Bahnhof Friedrichstraße Fraktur malen zu lassen, an einem Ort also, wo Fremde ankommen und abfahren – und es ist sehr bezeichnend für die Machtlosigkeit dieser Demokratie, dass dieser Fehlgriff völkischer Beamten nicht zu entfernen ist. Aber abgesehen davon: jeder Psychologe im zweiten Semester weiß, dass nichts so angenehm für das Auge ist als die Gleichförmigkeit, an die es sich einmal gewöhnt hat. Weiß auch, dass nichts schwerer ist, als dauernd denselben Inhalt in neuer Form aufnehmen zu müssen. Das hindert unsre Gschaftlhuber nicht, sich alle naselang etwas Neues auszudenken. Jedesmal, wenn ich nach Berlin komme, freue ich mich, was sie sich nun wieder ausgedacht haben. Und immer haben sie.
Nichts Nützliches. Aber das Auge muß sich erst an neue Formen gewöhnen, die keineswegs schöner sind als die alten – aber sicherlich haben vier Obersekretäre herrliche Akten drum herum geschrieben. Aufträge sind vergeben worden, es ist genehmigt, abschlägig beschieden, widerrufen worden … Sie können es nicht sehen, wenn etwas bleibt: und wenn es ein Zeitschriftenumschlag, ein Zeitungskopf, ein Straßenschild ist –: geändert, geändert muß sein. Wenn ich recht bin, pulst bei uns das Leben auf diese Weise.
Wir sind ein gänzlich neu renoviertes Land.
Aber wir haben auch – Otto sei gelobt! – sehr stabilen Mist, und an den rühren wir nicht. Da pulst auch nichts. Da wird auch nichts geändert. Der ist ewig, ewig der gleiche, von Anbeginn der deutschen Welt an. Dessen Barometer steht niemals auf VERÄNDERLICH, sondern immer auf SCHÖN WETTER.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 02.08.1927, Nr. 31, S. 189.