Mädchenhandel in Buenos Aires
Hier, in Kopenhagen, unterhielt ich mich jüngst über den Mädchenhandel mit einer Frau, deren Gesellschaftsroman viel dänischen Staub aufgewirbelt hat. Sie wies eine amerikanische Publikation vor mit schönen Fotos, auf denen zu sehen war, wie bebrillte Krankenpflegerinnen ihren gefallenen Schwestern mitleidig – oh, so mitleidig! – einen Weg ins sittliche Heim zeigten. »Come in! There is hope for all!« Der selige Wedekind hätte seine ungeläuterte Freude gehabt. Aus mir muß wohl ähnliches zu spüren gewesen sein, denn die Dame schwoll an vor sozialem Kämpfermut, »Hier! sehen Sie!« und sie wies auf eine Abbildung hin, auf der ein elendes Stück Frauenzimmer vor einer dreckigen Cauane breitbeinig saß – »ist das menschenwürdig? Das ist das Niedrigste, was einer Frau zugemutet werden kann … « Hm.
Ich mag die Frauen nicht, die den Mädchenhandel bekämpfen. Erstens gibt es keinen. Es gibt nämlich den nicht, den sie bekämpfen, gibt diese lächerlichen Filmereignisse nicht, wie sie in Berlin erst jüngst in den Kinos gezeigt worden sind, es gibt die unschuldigen Opfer kaum, und diese Bewegung hat etwas peinlich Puritanisches, zu kurz Gekommenes, Vermurkstes. Und weil, zweitens, Frauen, deren Betätigungsdrang nachts keine rechte Stütze findet, am Tage häufig rabiat werden, so sind jene würdigen Frauengestalten der Bourgeoisie, die da Rosen ins irdische Elend weben, zu jener Karin Michaelis, der ungefährlichen Alten, zu legen, deren banales Geschnatter so viele gute Handlungen begleitet und kompromittiert. Das ist nichts.
Es gibt in Deutschland – außer ein paar kümmerlichen Statistiken – wenig gescheite Literatur über das, was die Leute so Mädchenhandel nennen. In Frankreich ist jetzt ein Buch darüber erschienen, das wenigstens instruktiv ist. Es stammt von einem der geschicktesten Journalisten, Albert Londres, heißt ›Le Chemin de Buenos Aires‹ und ist bei Albin Michel in Paris erschienen. Ich habe meinen Wedekind nicht bei mir – aber von dem hätte ein Motto vorn stehen sollen.
Londres hat sich auf den Weg gemacht und ist nach Argentinien gegangen, um einmal zu sehen, was denn Wahres an der ›traite des Blanches‹ sei, von der man drüben so viel hört. Nicht ohne erst einmal die Cafés zu frequentieren, wo die pariser Händler dieses Artikels verkehren. Ich habe sie da sitzen sehen, habe mit ihnen gesprochen – diesen Teil der Schilderung Londres' kann ich als authentisch garantieren.
Da zeigt er diese merkwürdige Familienvertraulichkeit der Sittenpolizei mit der Händlerschaft, die gegenseitig etwa wie der Kaufmann zur Kundschaft stehn – alles kennt sich, wie an der Börse –, man macht eben Geschäfte zusammen, meistens peinliche … Das schwirrt von Fachausdrücken: »Ein falsches Gewicht transportieren«, heißt: ein Mädchen, die noch nicht volljährig ist, herüberbringen – und das ist verboten. Nicht verboten ist nach französischem Gesetz hingegen, ein Mädchen mit jenem ausdrücklich vorher verabredeten Zwecke nach Südamerika zu schaffen. Die Mädchen sind, gesetzlich, frei. Daß ein Mädchen gegen ihren Willen verschleppt wird, kommt wohl überhaupt nicht vor – das sind Wunschträume schlafloser alleinliegender Damen. Daß die Mädchen unter falschen Vorspielungen herübergelockt werden, mag sich öfter ereignen. Wer schafft sie hinüber –?
Was das Buch von Londres so überaus anziehend macht, ist die Bestätigung vom völlig kleinbürgerlichen Charakter des ›Lasters‹. Die Händler und Zuhälter, die das Geschäft betreiben, sind sehr gevifte Jungen, aber in ihren Idealen durchaus bourgeois. Zuerst mutet es komisch an, wenn man die bewegten Klagen dieser Leute liest: »Sie ist wie verdreht, wenn man sie ohne Aufsicht läßt! Sie sauft und fängt mit den Weibern was an und beträgt sich überhaupt nicht anständig!« Das ist ihnen aber mächtig ernst, und für jemand, der das ›milieu‹, wie es sich selbst nennt, auch nur mehrere Male besucht hat, durchaus natürlich. Ein wirklich ungeregeltes Leben führt ja zu gar nichts. Denn was wollen diese Menschen? Sie wollen – und das ist durchaus französisch: ›la vie bourgeoise‹. Noch zwei, noch vier Jahre Arbeit; denn es ist, von ihnen aus gesehen, eine Arbeit, die sie da leisten, dann wird man sich eine kleine Kneipe in Marseille kaufen – »et puis ça sera la vie bourgeoise«.
Ich sagte, dass es eine Arbeit ist, was sie tun. Man muß sich wohl abgewöhnen, mit geringschätzigem Lächeln von der Tätigkeit eines zu reden, dessen Ziele unsittlich erscheinen oder sind. Zum Einbruch gehört eine Summe von Geschicklichkeit, Mut, Umsicht und Lebenskraft – zur Kriegführung auch – zum Mädchenhandel auch. Man lese einmal bei Londres die Lebensläufe dieser Leute, und man wird das verstehen.
Da sind Flüchtlinge aus Guayana dabei, die sich hier rehabilitieren wollen. Rehabilitieren; indem sie eben auf diese Weise Geld verdienen. Guayana … das ist eines der dunkelsten französischen Kapitel. Ich habe dem jetzigen Generalgouverneur des Landes sehr nahe gestanden, als er noch in Paris lebte – er ist einer der edelsten und reinsten Franzosen, mit denen ich umgehen durfte. Was er tun kann, um das Geschick dieser Unglücklichen zu erleichtern, wird er tun – aber was kann er tun? Das Prinzip ist irrsinnig – jenes Prinzip übrigens, das neuerdings einer der gefährlichsten und übelsten Reaktionäre des Strafvollzuges, Herr Heindl, in Deutschland zu propagieren versucht. Man sollte ihn eine Weile nach seinem Rezept behandeln.
Ja, aus Guayana sind da also welche, die natürlich unter einem falschen Namen leben, und dann richtige pariser Jungen, die auf diese Weise Geld verdienen, denen Paris nicht mehr gefällt, oder die unter das berüchtigte ›interdict de séjour‹ fallen, das Aufenthaltsverbot (das das deutsche Recht nicht mehr kennt) –: das sind so die Leute, die zwischen Europa und Argentinien hin- und herreisen. Mit wem –?
Londres hat die ›Ware‹ kennengelernt.
Es sind das meist Mädchen, die stellungslos sind, oder die der Zuhälter aus der Fabrik herauslockt, und das gelingt ihm sehr leicht – denn was haben die Mädchen da zu verlieren? Den Arbeitslohn? Und welches Leben? Das frage du bei der Villa des Fabrikdirektors. Nun ist Londres' Buch kein sehr tiefes Buch, weil dieser Journalist einer Schule angehört, die etwa der Wiener entspricht – er macht sichs leicht. (Allerdings ohne die Klugschmuserei der Österreicher. Wenn ein kluger Wiener über einen Gegenstand spricht, denkt man immer, er habe ihn bis auf den Grund studiert – er hat aber meist nur zugesehen, wie ihn ein andrer studiert hat.) Londres also macht sichs leicht: so erklärt er uns nicht recht, woher dieser ungeheure Import für die argentinische Prostitution nötig ist.
Die Bedarfsfrage allein machts nicht. Die ist übrigens sehr lustig geschildert: wie die Argentinier in den kleinen Häusern, deren jedes von einem Mädchen bewohnt wird, anstehen wie unter Ludendorff die Zwangs-Patriotinnen nach Butter – »welche Rasse!« ruft Londres aus. Diese Augenblicksbilder, wie die Wartenden Zeitungen lesen und »Bitte, nach Ihnen!« spielen – das ist sehr gut gesehn.
Ja, in den kleinen Häusern werden nur die bessern Mädchen von ihren Händlern untergebracht. Ihre Beschäftigung ist dort enorm – Londres erzählt von vierzig, sechzig Besuchern am Tage, was lamentabel zu lesen ist. Und doch lieben sie ihren Kerl. »Du willst mein Geld nicht mehr nehmen?« sagte eine. »Ja, liebst du mich denn nicht mehr?« Das fällt nun schon ein wenig aus der Vorstellungssphäre amerikanischer Sittlichkeitspastöre und moralbrünstiger Frauen heraus – aber es ist doch so. Und wie sie überhaupt noch lieben können? »Ein Weinkellner«, sagt Londres, »kann hundertmal am Abend probieren, ob die Flasche nach dem Korken schmeckt – einmal wird er doch auf eigne Rechnung trinken wollen … «
Und wenn die Händler die Mädchen nicht so reich ausstatten und nicht so viel Geld in das Unternehmen hineinstecken wollen, dann tun sie sie in die gewöhnlichen Bordelle, aber da werden sie von ihren Aushältern regelmäßig überwacht. Die Reichen haben zwei Mädchen: und die zweite weiß genau, dass sie nicht diejenige ist, die vielleicht einmal geheiratet werden wird. Und doch –
Die Händler sind keß, sie sind gewitzt, sie sind sehr, sehr lebenstüchtig – und sie leben von der Reputation der französischen Frau, der ›Franchucha‹! Argentinien, sagt Londres einmal, importiert die Maschinen aus Deutschland, den Mostrich aus England, die Rasierapparate aus Amerika und die Frauen aus Frankreich.
Die Händler sind natürlich unter sich diskret organisiert. Sie müssen das schon gegen die argentinische Polizei sein, deren Lumpenhaftigkeit auch aus diesen Berichten herrlich ins Auge springt. Was da an Erpressungen verübt wird, gehört eigentlich schon zum Kapitel ›Steuerwesen‹ – und die Kenner nehmen es mit Langmut, mit Schlauheit und mit Gelassenheit hin. Das gehört so zum Leben …
Londres hat den Überseetransport gesehen – einen von jenen Transporten, wo die Mädchen, deren Papiere nicht in Ordnung oder die minderjährig sind, wochenlang in den Ventilationsröhren der Dampfer versteckt bleiben, wo von Offizieren und Mannschaften die Ware ans Land verschoben wird – und er hat die Mädchen aufgesucht.
Da war eine, deren Eltern hatten Geld von ihr bekommen (darauf halten die Zuhälter sehr), und die Mutter hatte an das französische Konsulat geschrieben: ihr käme die Sache nicht geheuer vor, sie möchte ihre Tochter zurückhaben, und sie bäte doch den Herrn Konsul … Der Herr Konsul lud das Mädchen vor. Das Mädchen kam, heulte, log – und weigerte sich, zurückzugehen. Auch Londres konnte nichts ausrichten. Nein, sie hätte es hier sehr gut, und sie wollte nicht. Daneben gibt es natürlich Tausende, die nicht zurückkommen können, die elend verrecken, die verlassen, krank, zerschlagen zugrunde gehen.
Am besten ist jenes Kapitel, wo beschrieben wird, wie Londres mit zwei Zuhältern und ihrem Mädchen in der kleinen Haushütte, im Atelier, sozusagen diniert. Der letzte Kunde wird hinausbegleitet, Madame hat zwischendurch nach dem Essen gesehen, und während des Essens wickeln sich nun weise und schöne Gespräche darüber ab, wie es so zugeht im menschlichen Leben. »Zieh dein schwarzes Kleid an!« hat er zu ihr vorher gesagt. »Na klar!« sagt sie. »Oder meinst du, ich werde im Arbeitsmantel erscheinen … ?« Während sie so sitzen und essen und plaudern, klingelt es, das Häuschen scheint sehr, sehr gesucht zu sein. Aber niemand öffnet – jetzt ist Feierabend. Und als es dann zum sechsten Mal und immer stürmischer klingelt, da sagt der Oberlouis: »Bon dieu! on n'a jamais vu de cochons pareils!« So sieht das Leben von hinten aus.
Und Londres gibt eine Schilderung der polnisch-jüdischen Prostitution, die in Buenos Aires neben der französischen wirkt, die aber auf der sozialen Skala drei Stufen tiefer liegt, und wenn er nicht die kindliche Angewohnheit hätte, sich die verdienten Beträge der Mädchen in Francs umzurechnen, so einen ganz falschen Eindruck ihrer Revenuen erweckend, dann wäre es noch schöner.
Im ganzen also: ein Prospekt zur Auswanderung? So töricht ist Londres nicht.
Aber er sagt – viel zu wenig scharf sagt ers –: Wer ist schuld? Wer ermöglicht das? Die Händler? Die Zuhälter? Die Polizei? Nein, ganz jemand anders.
Er sagts zu leise – also muß mans lauter sagen.
Jede Prostitution niederer Art ist nur möglich, wenn es sich für die Mädchen nicht zu arbeiten lohnt. Wie stark müssen Widerwille, Hemmungen, Erziehung sein, wenn Tausende von Mädchen bei den schmierigen Gehältern, die sie beziehen, nicht auf die Straße gehen! Es ist ja nicht nur die Erbärmlichkeit der Löhne, die freche Ambition der Unternehmer – es ist die Aussichtslosigkeit dieser Arbeit, die die Mädchen in allen Ländern zu Hunderttausenden untergehen läßt. Wozu ein Leben in Arbeit und Ehren?
Dazu: damit sie am Schluß dastehn, mit schlaffen Brüsten, und leer gearbeitet, gearbeitet, ein paar Bettelpfennige in der Kommode, und, wenns gut gegangen ist, ohne Tuberkulose. Meist gehts aber nicht gut. Und da gehen sie denn so oft, in Frankreich, nach Buenos Aires.
Peter Panter
Die Weltbühne, 05.07.1927, Nr. 27, S. 18.