1 [99]
Von vielen Euripideischen Prologen gilt, was Chaulieu von Crebillons Rhadamist sagt: „das Stück wäre vollkommen klar, hätte es nicht die Exposition.”
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Die Euripideische Tragödie ist ähnlich wie die französische nach einem abstrakten Begriff gebildet. Schlegel: „sie verlangten tragische Würde und Größe, tragische Situationen, Leidenschaften und Pathos, ganz nackt und rein, ohne allen fremdartigen Zusatz.”
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Euripides reflectirte: die Voraussetzungen muß jeder bereits haben, um von vorn herein lebhaft sympathisiren zu können.
Muß er sie sich langsam aus- und zusammenrechnen, so geht das Gefühl inzwischen verloren: und was schlimmer ist, er verrechnet sich vielleicht. Darum der Prolog.
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Wie füllte man die durch Weglassung des Lyrischen entstandene Lücke im französischen Drama aus? Durch Intrigue.
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Die dumme Lehre von der poetischen Gerechtigkeit gehört ins bürgerliche Familienschauspiel, in die Wiederspiegelung des Philisterdaseins: sie ist der Tod der Tragödie.
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Gebrauch, daß vornehme Personen ihre Sitze auf der Scene selbst zu beiden Seiten hatten und den Schauspielern kaum die Breite von zehn Schritten zur Handlung ließen. Diesem „Chor” zuliebe veränderte man nicht die Dekoration! Alle Theatereffekte bedürfen der Entfernung: also wurden sie unmöglich. Die Aufgabe war ein Oelgemälde wirksam zu machen, das mit dem Mikroskop angeschaut wurde. Die Bühne wird förmlich wie ein Vorzimmer.
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Ein Geist, der bei einer Mttagsmahlzeit erscheint, macht sich lächerlich. Schlegels glänzendes Bild: das homerische Epos ist in der Poesie was die halberhobene Arbeit in der Skulptur, die Tragödie was die freistehende Gruppe.— Das Basrelief ist gränzenlos, es läßt sich vor- und rückwärts weiter fortsetzen, weswegen die Alten auch am liebsten Gegenstände dazu gewählt, die sich ins Unbestimmbare ausdehnen lassen, als Opferzüge, Tänze, Reihen von Kämpfen usw. Deshalb haben sie auch an runden Flächen als an Vasen, am Fries einer Rotunde, Basreliefs angebracht, wo uns die beiden Enden durch die Krümmung entrückt werden und so, wie wir uns fortbewegen, eines erscheint und das andre verschwindet. Die Lesung der homerischen Gesänge gleicht gar sehr einem solchen Herumgehen, indem sie uns immer bei dem Vorliegenden festhalten und das Vorhergehende und Nachfolgende verschwinden lassen.
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II. In Socrates der naive Rationalismus in dem Ethischen. Alles muß bewußt sein, um ethisch zu sein.
II. Euripides ist der Dichter dieses naiven Rationalismus. Feind allem Instinktiven, sucht er das Absichtliche und Bewußte. Die Leute sind, wie [sie] sprechen, nicht mehr.
II. Die Figuren des Sophokles und Aeschylus sind viel tiefer und größer als ihre Worte: sie stammeln über und von sich.
II. Euripides schafft sich die Gestalten, indem er sie anatomisch entstehn läßt: es giebt nichts Verborgenes in ihnen.
II. Sokrates ist in der Ethik dasselbe was Demokrit in der Physik ist: eine begeisterte Engherzigkeit, eine enthusiastische Oberflächlichkeit: doch spricht die Urtheile von „engherzig” und „oberflächlich” erst die deutsche Nachwelt, die instinktiv reicher und stärker ist als die hellenische: der Fanatiker der Erkenntniss.
II. Euripides ist der erste Dramatiker, der einer bewußten Aesthetik folgt.II. Die Mythologie des Euripides als die idealistische Projection eines ethischen Rationalismus.
II. Euripides hat von Socrates die Vereinzelung des Individuums gelernt.