Die blonde Bestie


(Die Mädchen von S. und die ungalanten Boches.) Aus der Westfront wird folgende heitere Episode berichtet: Als die deutschen Eroberer das Dörfchen S. besetzt hatten, veranlaßten sie die Gemeindebehörden, »aus Gründen der Ordnung« an der Tür eines jeden Gebäudes ein Verzeichnis aller dort wohnhaften Personen anzuschlagen. Es genügte ihnen aber nicht etwa, Name und Beruf zu wissen, nein, sogar das Alter der einzelnen Personen mußte mit angegeben sein und — wie peinlich — obendrein vom Dorfschulzen als richtig beglaubigt. Die wenigen noch im Ort befindlichen Männer besahen die Sache allerdings mit Gleichmut, und auch die Greisinnen und die ehrwürdigen Matronen fügten sich. Ja, es gab einen kleinen weiblichen Kreis im Dorfe, der die Maßnahmen sogar mit Genugtuung begrüßte: die von 18 bis 24! Anders aber die Schönen des »Mittelalters«. Sie fühlten sich in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt. Was nützt jetzt zum Beispiel der kleinen, zierlichen Wäscherin Valentine Roussi alle Munterkeit und Anmut, wo der vermaledeite Wisch da draußen zu jeder Stunde auf die Gasse hinausschrie, dass sie »schon« 16 Jahre alt ist? Und welchen Sinn hat es denn noch für die in ihrer ganzen bäuerlichen Schönheit erblühte Madeleine Thuillard, ihrer vollen Figur eine schlanke Taille abzutrotzen oder mit Hilfe des schwarzen Samtbandes ihrem sonnengebräunten Hals einen so »vorteilhaft« wirkenden Schmuck zu verleihen, wo der in ihrem Hause in Quartier liegende Kriegsmann lediglich vor die Tür zu gehen braucht, um sich über Dichtung und Wahrheit bei Madeleine Gewißheit zu verschaffen? Reicht doch die dreifache Fingerreihe nicht mehr hin, ihre Lenze aufzuzählen. Kurz und gut, der Zustand war wirklich unerträglich. Und eines Abends, als es dunkelte, raffte sich eine resolute Neunundzwanzigjährige zur Tat auf. Sie nahm ein Messer, schlich vor die Haustür und kratzte mit zitternder Hand und klopfenden Herzens den vielsagenden Einer der zweistelligen Zahl ihres Alters — die neun — von dem blütenweißen Amtspapier hinweg. Den Zehner — die zwei — ließ sie unberührt, denn sie wollte ja durchaus nicht leugnen, dass es mit ihr so um die 20 herum stand. Und siehe da: das Verfahren machte schnell Schule, so dass heute die Einwohnerverzeichnisse in bezug auf das Alter der holden Weiblichkeit zwischen 25 und 40 Jahren fast durchwegs nur noch die geheimnisvolle Zehnerziffer aufweisen. Die deutsche Ortskommandantur hat den gewiß höchst bezeichnenden Akt der Selbsthilfe gekränkter französischer Dorfschönen offenbar in seiner ganzen Harmlosigkeit erfaßt und läßt den Missetäterinnen stillschweigend den kleinen Triumph ihrer Eitelkeit.

Nein, die Boches sind nicht ungalant, sondern sie haben Humor. Die resolute Neunundzwanzigjährige hat ganz recht getan, sozusagen ein Beispiel gegeben, und der in ihrem Hause liegende Kriegsmann, dem es um die »erweisliche Wahrheit« zu tun war, ist um den Erfolg seiner Neugierde betrogen. Hätte sie aber geahnt, dass diese bei weitem nicht so ordinär sei wie die Scherzhaftigkeit, über die er erforderlichenfalls auch verfügt, sie hätte es unterlassen. Denn Unappetitlicheres als dieser Humor preisgebender Diskretion, als dieses Lachen des sexuellen Verzichts, diese Blamierung des »Mittelalters« und diese Musterung der »Lenze«, die ihre Heiterkeit von den ›Fliegenden‹ auf die Flieger vermacht hat, läßt sich vor dem unsere Lebensart mehr bestaunenden als hassenden Europa nicht ersinnen. Die Feinde werden endlich lernen, dass es wirksamer sei, unsere Pikanterien zu berichten, als unsere Greuel zu erfinden.

 

 

August 1916.


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