Phryne und Müller
(Die Artistin im Eva-Kostüm.) Die Artistin Hilda St. .... erschien im Vormonate in einem Kaffeehause in der Alleegasse auf der Wieden, angetan nur mit einem Regenmantel. Da ihre Kleidung bei den anderen Gästen natürlich Anstoß erregte, wurde die St. zur Polizei gebracht und dort fand man in der Tasche des Regenmantels ein von einem Herrn unterschriebenes Rosabriefchen, auf welchem die Worte zu lesen waren: »Liebe Hilda! Komme heute in derselben Toilette in das Kaffeehaus, in welcher Du neulich bei mir gewesen bist.« — Zur gestrigen Verhandlung vor dem Bezirksgericht Margareten war die Artistin nicht erschienen. Da sich ihre persönliche Einvernahme als dringend notwendig erwies, beschloß der Richter die Vertagung und ordnete für den Fall, als Hilda St. auch zur nächsten Verhandlung nicht kommen sollte, deren Vorführung an.
Die Vorladung dürfte kaum die Bitte enthalten haben, in derselben Toilette bei Gericht zu erscheinen, in welcher sie neulich im Kaffeehaus erschienen ist. Denn die Zeiten, wo Phrynen auf Bezirksrichter Eindruck gemacht haben, sind vorbei. Was hinreichend aus der Tatsache hervorgeht, dass der Freispruch, den der Richter in der Schlußverhandlung gefällt hat und gegen den weit weniger einzuwenden ist als gegen die Publizierung des Ereignisses, Entrüstung hervorgerufen hat, und eine, die sich sonderbarerweise in Zuschriften an mich Luft macht. Ein deutscher Mann, der tatsächlich »Friedrich Müller« heißt und mir versichert, dass meine letzte Vorlesung »alle Veranstaltungen in unserem lieben Nürnberg weit übertraf« — was ich nicht erwartet hätte —, meint, dass das Empfinden jedes sittlich denkenden Menschen auf das tiefste verletzt sei.
Ich hoffe zuversichtlich, dass es der Meisterschaft Ihrer Kritik gelingen wird, einen Richter des uns verbündeten Staates in Hinkunft davon abzuhalten, gegen solch schamloses Treiben in dieser ernsten Zeit mit einem Freispruche vorzugehen. In der Hoffnung, die Angelegenheit vor das richtige Forum hiemit gebracht zu haben, zeichne ich Euer Hochwohlgeb. ganz ergebener ...
Es scheint eine Verletzung der Nibelungentreue ultra dimidium vorzuliegen. Der Bürger des uns verbündeten Staates hat sich in dem Forum, vor dem er sie belangt, nicht getäuscht. Wenn das Schreiben selbst fingiert wäre, so gäbe es doch das Bild jener vorhandenen Gesinnung, die mich als Richter dauernd davon abhält, gegen die ernste Zeit mit einem Freispruch vorzugehen.
Oktober, 1916.